Wir unterstützen Frauen und Mädchen in Kriegs- und Krisengebieten.
Suche

Transgenerationales Trauma – Gewalt prägt

(Sexualisierte) Kriegsgewalt hat generationenübergreifende Folgen für Überlebende und die Gesellschaft. Studien weisen darauf hin, dass schwere Traumata sogar epigenetisch vererbt werden.

Eine Frau mit Kopftuch hält ihre Tochter und lehnt ihre Stirn an das Gesicht ihrer Tochter.

Traumatische Erlebnisse haben weitreichende Folgen. Unverarbeitet können sie als transgenerationale Traumata an Kinder, Enkelkinder und die Gesellschaft übertragen werden. Auch Kriegsvergewaltigungen und andere Formen sexualisierter Gewalt haben oft ein Kriegstrauma oder eine sonstige Form der Traumatisierung zur Folge. Sie verletzen die körperliche und seelische Integrität, sie sind ein massiver Angriff auf das Vertrauen und die Beziehungsfähigkeit der Betroffenen. Vergewaltigungsmythen, Stigmatisierung sowie die familiäre und gesellschaftliche Tabuisierung der Gewalt erschweren es vielen Überlebenden sexualisierter (Kriegs-)Gewalt, über ihre Gewalterfahrung zu sprechen und sich angemessene Unterstützung zur Überwindung ihres Kriegstraumas zu holen. So wirken sich Traumata nicht nur auf das Leben der Betroffenen aus, sondern prägen auch in Friedenszeiten die Familien und die gesamte Gesellschaft, oft über Generationen hinweg. Die generationenübergreifende Vererbung von Traumata nennt man in der Forschung Epigenetik.

Fragen & Antworten zu transgenerationalem Trauma

Was bedeutet transgenerationales Trauma?

Unter transgenerationalem Trauma versteht man die meist unbewusste Weitergabe traumatischer Erfahrungen an nachfolgende Generationen oder Gesellschaften. Nachfahren leiden an Traumafolge-Symptomen, ohne dass sie das Trauma selbst erlebt haben. Traumatische Erfahrungen können individuell einzelne Personen oder auch viele Menschen einer Gruppe betreffen. Betrifft ein Trauma viele Menschen einer Gruppe, spricht man von einem kollektiven Trauma. Individuelle Traumata sind etwa innerfamiliäre Gewalt, lebensbedrohliche Erkrankungen, Unfälle, Missbrauch in der Kindheit. Kollektive Traumata sind beispielsweise der Holocaust oder auch die massenhafte Vergewaltigung von Frauen während des Genozids in Ruanda.

Wie entsteht eine transgenerationale Traumatisierung?

Transgenerationalen Traumatisierungen liegen zunächst traumatische Erfahrungen einer Person oder auch einer Gruppe zugrunde. Oft sind diese Traumata nicht bewusst, werden als solche gesellschaftlich nicht anerkannt, sind mit Schuldgefühlen und Scham belegt und deshalb ein Tabuthema. Betroffene erhalten keine angemessene Unterstützung durch das soziale und gesellschaftliche Umfeld. All das verhindert die Verarbeitung von Traumata. Unverarbeitet können sich Traumata auch auf den Umgang mit den eigenen Kindern auswirken. Diese zeigen sich etwa über Reaktionsweisen, Vermeidungsverhalten oder Umgang mit emotionaler Nähe und Distanz. Die für die Kinder daraus resultierenden unbewussten Stressreaktionen, Konflikte und emotionale Belastungen werden wiederum oft an deren Kinder weitergegeben.

An welchen Symptomen erkennt man ein transgenerationales Trauma?

Nachkommen traumatisierter Eltern oder Großeltern beschreiben häufig, dass eine dunkle und schwere Stimmung des Schweigens über der Familie liegt, die sie nicht zuordnen können. Hinzu kommen oft Schuldgefühle, dessen Ursprung ihnen nicht greifbar ist. Viele Kinder oder Enkel:innen leiden unter Depressionen, sind von diffusen Ängsten geplagt, fühlen Hilflosigkeit, Scham, tiefe Verunsicherung, eine Verlorenheit in der Welt oder unterdrückte Wut. Manche haben wiederkehrende, belastende Träume, die sie zeitlich mit der Eltern- oder Großelterngeneration in Verbindung bringen. Oft ahnen sie, dass es nichts mit ihrem eigenen Tun oder Erleben zu tun hat.

Portraitfoto von Katja Duregger

„Schmerz wandert durch Familien, bis jemand bereit ist, ihn zu fühlen.“

Katja Duregger, Enkelin einer von italienischen Besatzern in einem Südtiroler Bergdorf vergewaltigten Frau

Über wie viele Generationen kann ein Trauma weitergegeben werden?

Aus der Holocaust-Forschung und aus der Forschung mit Kriegsveteranen weiß man, dass ein Trauma mindestens bis in die dritte Generation reichen kann. Das Bewusstsein darüber, dass Kriegsvergewaltigungen kein individuelles Schicksal sind, sondern sich auch auf Kinder, Enkel:innen und das soziale Umfeld auswirken, trägt entscheidend zur Verarbeitung der Gewalt und den übergreifenden Folgen bei.

Welche Bedeutung spielt die Weitergabe von Traumata in der Epigenetik?

Zahlreiche Studien legen nahe, dass sich Traumata auch über epigenetische Wirkmechanismen bis auf die Ebene der Gene auswirken und an nachfolgende Generationen weitergegeben werden. Eine Studie zum sogenannten niederländischen Hungerwinter 1944/45 lässt beispielsweise vermuten, dass die Nachfahr:innen hungernder Schwangerer zu Übergewicht neigen, da der Körper sich genetisch für Nahrungsengpässe gewappnet zu haben scheint. Bei Kindern, deren Mütter Überlebende des Terroranschlags auf das World Trade Center waren und infolgedessen unter posttraumatischen Belastungsstörungen litten, hat man niedrige Cortisol-Werte nachgewiesen. Ein niedriger Cortisol-Wert wird mit Anfälligkeit für posttraumatische Belastungsstörungen in Verbindung gebracht. Cortisol ist neben Adrenalin das wichtigste Stresshormon, das zur Stressbewältigung hilft.

Welcher Bezug besteht zu (sexualisierter) Kriegsgewalt?

Kriegsvergewaltigungen verletzen die körperliche und seelische Integrität und greifen den menschlichen Wesenskern – das Vertrauen in soziale Beziehungen – an. Internationale Studien zeigen, dass etwa die Hälfte der von sexualisierter Gewalt Betroffenen – in Friedens- und in Kriegszeiten – langfristig unter Symptomen wie Schlaflosigkeit, unkontrollierbaren Erinnerungsblitzen und Angstzuständen leidet. Gewalt prägt. In einer Studie, die medica mondiale und Medica Zenica fast 20 Jahre nach Kriegsende in Bosnien durchführte, gaben 70 Prozent der befragten Frauen an, dass die Vergewaltigung noch immer vollständig ihr Leben beeinflusst. Die Stigmatisierung der Betroffenen, die familiäre und gesellschaftliche Tabuisierung von geschlechtsspezifischer Gewalt sowie eine fehlende öffentliche Anerkennung des erfahrenen Unrechts können posttraumatische Folgereaktionen weiter verstärken. Es ist essenziell, dass von sexualisierter Gewalt Betroffene ihre leidvollen Erfahrungen nicht verschweigen müssen und sie mit solidarischer Unterstützung bewältigen können. Dann ist es möglich, dass Ängste, Schutz- oder Stressreaktionen nicht an Kinder und Enkelkinder weitergegeben werden.

Welcher Bezug besteht zum Zweiten Weltkrieg und zum Holocaust?

Millionen Frauen und Mädchen wurden im Zweiten Weltkrieg sowie in der Nachkriegszeit in Europa und Asien Opfer sexualisierter Gewalt. Betroffen waren Frauen und Mädchen, die von den Nationalsozialisten verfolgt und in Arbeits-, Konzentrations- und Vernichtungslager inhaftiert wurden: Jüd:innen, Romnija und Sintize, als „asozial“ Verfolgte und Angehörige des Widerstands. Hinzu zählten außerdem Frauen und Mädchen in den deutsch besetzten Ländern wie der Sowjetunion, Polen, Frankreich, Niederlande und Partisaninnen, beispielsweise in Jugoslawien. Auch Frauen und Mädchen aus Korea, China, Taiwan oder von den Philippinen wurden durch die japanische Armee verschleppt und sexuell versklavt. Sie wurden zynisch als „Trostfrauen“ bezeichnet, um die Verbrechen zu verschleiern. Auch Übergriffe durch sowjetische, US-amerikanische, französische und britische Soldaten am Ende des Zweiten Weltkrieges sind dokumentiert.

Gibt es Studien zu transgenerationalen Traumatisierungen?

Transgenerationaler Traumatisierungen sind international ein relativ junger Forschungsgegenstand, dem sich bisher hauptsächlich die Psychologie, Sozialpsychologie und Sozialwissenschaften widmen. Inzwischen liegen auch Erkenntnisse aus den Naturwissenschaften (Neurobiolologie) und Literaturwissenschaften vor. Grundlegende Erkenntnisse zur transgenerationalen Traumatisierung stammen aus den 60er Jahren zur Forschung mit Holocaust-Überlebenden. Allein bis zum Jahr 2011 lagen über 500 Arbeiten hierzu vor. In Deutschland wird erst seit den 80er Jahren zum Thema geforscht. Bis heute gibt es aber nur wenige wissenschaftlichen Untersuchungen über die transgenerationalen Folgen von sexualisierter Gewalt.

  • Kriegsenkel: Die Erben der vergessenen Generation
    Bode, Sabine
  • Wie Traumata in die nächste Generation wirken
    Baer, Udo & Fricke-Baer, Gabriele
  • Die Last des Schweigens. Gespräche mit Kindern von Nazi-Tätern.
    Bar-On, Dan
  • Ich hole mir mein Leben zurück
    Dautel, Ingrid
  • Ererbte Wunden heilen. Therapie der transgenerationalen Traumatisierung.
    Drexler, Katharina
  • Ererbte Wunden erkennen. Wie Traumata der Eltern und Großeltern unser Leben prägen.
    Drexler, Katharina
  • Wir Kinder der Gewalt
    Gebhardt, Miriam
  • Der Krieg in mir
    Heinzel, Sebastian
  • Transgenerationale Traumatisierung
    Huber, Michaela
  • Transgenerationale Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten – Interdisziplinäre Studien zur Nachhaltigkeit historischer Erfahrungen über vier Generationen.
    Radebold, H., Bohleber, W. and Zinnecker, J. (eds)
  • Kriegskinder und Kriegsenkel in der Psychotherapie. Folgen der NS-Zeit und des Zweiten Weltkrieges erkennen und bearbeiten – Eine Annäherung.
    Reddemann, Luise
  • Bis ins vierte Glied. Transgenerationale Traumaweitergabe
    Publikation zur Fachtagung der Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin. Schwerin. Drescher, Anne et al. (Hrsg.) (2015)
  • Collective Trauma and Resilience
    Key Concepts in Transforming War-Related Identities., Berghof Handbook Dialogue Series No. 11 (June).Reimann, C. und König, U. (2017)
  • Transmissions and Chosen Traumas: An Aspect of Large-Group Identity
    Group Analysis. Vol. 34, 2001, pp. 79-97. Volkan, V. (2001)
  • Addressing Individual and Community Transgenerational Trauma
    (Australien). Judy Atkinson, Jeff Nelson, Robert Brooks, Caroline Atkinson and Kelleigh Ryan (o.J.)
  • Trauma, Transgenerational Transfer and Effects on Community Wellbeing
    Atkinson, Judy et. al. (2010)
  • Die unbewusste Weitergabe von Traumata und Schuldverstrickungen an nachfolgende Generationen
    Journal für Psychologie, Jg 21 (2013), Ausgabe 2 Inter/Generationalität. Angela Moré (2013)
  • Post Traumatic Slave Syndrome. America's Legacy of Enduring Injury and Healing
    Uptone Press. Degruy, Joy (2005)
  • Historical trauma among indigenous peoples of the Americas: Concepts, research, and clinical considerations
    Journal of psychoactive drugs, 43(4), 282-290. Brave Heart, M. Y. H., Chase, J., Elkins, J., & Altschul, D. B. (2011)
  • Gender differences in the historical trauma response among the Lakota
    Journal of Health & Social Policy 10(4): 1–21. Brave Heart, M. Y. H. (1999)
  • The trauma experienced by generations past having an effect in their descendants
    Narrative and historical trauma among Inuit in Nunavut, Canada, Transcultural Psychiatry 51(3): 339–369. Crawford, A. (2014)

Weiterführende Literatur: Lesen Sie unsere Literaturempfehlungen zu Themen wie sexualisierte Gewalt, Trauma-Arbeit und Selbstfürsorge an, die sich in unserer jahrelangen Praxis als unterstützende Fachliteratur bewährt haben.

Welche Folgen hat transgenerationales Trauma für die Gesellschaft?

Von sexualisierter Gewalt betroffene Frauen und Mädchen sind mit ihren Traumata oft auf sich allein gestellt. Sie werden immer wieder gesellschaftlich stigmatisiert, ausgegrenzt. Sie selbst und häufig auch ihre Kinder leiden körperliche, seelische und existenzielle Not. Aber auch auf gesamtgesellschaftlicher Ebene sind die Folgen gravierend. Durch die Übertragung der Traumata an die nächste Generation, setzt sich die Gewaltspirale oft fort. In einem gesellschaftlichen Klima des (Be-) Schweigens bleibt das Thema tabuisiert. So gibt es wenig Möglichkeiten, diese Folgen offen zu benennen und zu bearbeiten. All das hinterlässt Spuren auf individueller Ebene, wirkt sich aber ebenso auf Familien und die Gesellschaft aus. Eine Gesellschaft, die weder die Folgen anerkennt und würdigt noch die Ursachen benennt, schafft ein Klima, das eher zur Weitergabe der Folgen beiträgt als zu ihrer Bearbeitung und Lösung.

Wie spricht man transgenerationale Traumatisierung in der Familie an?

Verschwiegene oder tabuisierte Themen müssen behutsam angegangen werden. Das Schweigen der Betroffenen ist ein wichtiger Schutzmechanismus, damit diese ihren Alltag meistern können. Damit Muster geändert werden können, sind Vertrauen und Sicherheit notwendig. Fragen sollten behutsam gestellt, eher Erzählimpulse gegeben werden und nicht auf das Berichten von Details abzielen. Es kann auch hilfreich sein, die eigenen Fragen und Zweifel zum Beispiel als Kind oder Enkel:in einem anderen Rahmen zu bearbeiten, in dem diese gut aufgehoben sind. Welcher dies ist, kann ganz unterschiedlich sein – für manche ist es eine Selbsthilfegruppe, für andere die beste Freundin, für jene ist es eine Therapie oder ein spiritueller Weg.

Gibt es eine Therapie gegen transgenerationale Traumatisierung?

Eine spezifische Therapie für transgenrationale Traumatisierungen gibt es bisher nicht. Mittlerweile gibt es aber immer mehr Therapeut:innen, die vor allem im Rahmen von Traumatherapien auch das Thema transgenerationale Traumatisierung integrieren und teils eigene Therapieverfahren entwickeln. So hat etwa die Ärztin und Trauma-Therapeutin Katharina Drexler einen der ersten strukturierten Behandlungsansätze zur Therapie transgenerationaler Traumata in ihrem 2017 erschienenen Buch „Ererbte Wunden heilen. Therapie der transgenerationalen Traumatisierung“ vorgestellt.

Wie kann die Weitergabe von Traumata verhindert werden?

Wichtig ist die möglichst frühzeitige Verarbeitung der Traumata. Dazu tragen wesentlich die Erfahrungen bei, die Betroffene in ihrem sozialen und gesellschaftspolitischen Umfeld machen. Im Idealfall erfahren sie Unterstützung, indem ihr Leid anerkannt wird und ihnen Unterstützungsangebote zur Bearbeitung der Gewalterfahrungen zur Verfügung stehen. Hilfreich sind auch Bezugspersonen in ihrem Umfeld, zu denen Überlebende eine sichere und vertrauensvolle Beziehung haben. Außerdem braucht es sichere Räume, um über das Thema zu sprechen. Das Sprechen kann eine heilsame Wirkung auf Beziehungen zu anderen, aber auch zum eigenen Selbst ausüben. Wenn das auf kleiner Ebene in Beziehungen und Familien passiert, wirkt es sich langfristig auch auf die Gesellschaft aus. Eine stress- und traumasensible Haltung kann dazu beitragen, dass gegenüber Betroffenen ein stabilisierendes Umfeld geschaffen wird, in dem sie gestärkt werden und sich leichter bewegen und öffnen können.

Sexualisierter Gewalt liegt häufig eine Verschränkung verschiedener Diskriminierungsformen zugrunde (sogenannte Intersektionalität). So besteht beispielsweise bei Frauen und Mädchen, die aufgrund von Behinderung und/oder Rassismus diskriminiert werden, ein höheres Risiko, sexualisierter Gewalt ausgesetzt zu sein. Deshalb sollte Präventionsarbeit immer auch diskriminierungssensibel sein und die tieferliegenden Ursachen von Gewalt und Trauma angehen.

Welche Interventionsmöglichkeiten hat der Staat?

Ein wichtiger Aspekt ist die öffentliche Anerkennung, dass sexualisierter Gewalt ein Unrecht ist, das auch Folgen für die nachfolgenden Generationen hat. Und um die Kultur des Schweigens zu überwinden, braucht es auch Stellungnahmen von Personen des öffentlichen Lebens, zum Beispiel von Politiker:innen. Ihr Sprechen sendet wichtige Botschaften aus. Eine Würdigung, aber auch ein Startpunkt für eine offene generationsübergreifende Debatte zu dem Thema, wäre zum Beispiel ein Erinnerungsort für vergewaltigte Frauen. Ein weiterer Punkt ist der Ausbau und die Sicherstellung niedrigschwelliger Beratungs- und Therapieangebote – sowohl für betroffene Frauen jeder Altersgruppe als auch für ihre Angehörigen.

Was kann die Gesellschaft tun gegen transgenerationales Trauma?

Es braucht einen guten und sicheren Rahmen, in dem das Unrecht und die Verletzungen benannt und anerkannt werden. Dabei ist es wichtig, nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die heutige Lebenssituation der Überlebenden in den Blick zu nehmen und da, wo es notwendig ist, auf angemessene Unterstützung einzuwirken. Auch Rituale, Gedenkveranstaltungen und politische Aktionen können eine heilsame Wirkung haben. Dabei ist eine differenzierte Wahrnehmung wichtig, die Frauen nicht nur in der Opferrolle zeigt, sondern auch ihre Überlebensstärke würdigt. Um zu verhindern, dass sich Traumata transgenerational fortschreiben, braucht es einen proaktiven Umgang mit der Vergangenheit und mit sexualisierter Gewalt.

Ein Demoschild vor einem wolkenverhangenen Himmel
Ein Demoschild vor einem wolkenverhangenen Himmel
Sexualisierte Kriegsgewalt
Sexualisierte Gewalt an Frauen ist Bestandteil aller Kriege und Konflikte. Folgen – wie transgenerationales Trauma – bestehen auch lange nach Kriegsende.

Was wir machen: Trauma aufarbeiten und Überlebende nachhaltig unterstützen

medica mondiale hat in enger Kooperation mit Partnerorganisationen den „STA – stress- und traumasensibler Ansatz®“ entwickelt. Dessen Grundprinzipien Stabilität und Sicherheit, Verbindung und Empowerment fördern eine Haltung, die von sexualisierter Gewalt Betroffene stärkt. Ein unterstützendes Umfeld und nachhaltige Bedingungen für die Prävention können auf dieser Basis entstehen.

Ruanda und Bosnien: „Kinder des Krieges“ und ihre Mütter vom Stigma befreien

Um transgenerationale Folgen der Gewalt abzumildern oder gar zu unterbrechen, unterstützt medica mondiale beispielsweise Überlebende sexualisierter Gewalt und Kinder, die während des Völkermordes 1994 in Ruanda aus Vergewaltigung geboren wurden. Hundertausende Frauen, vor allem Tutsi, wurden systematisch vergewaltig. Viele Frauen haben in Folge der Vergewaltigungen Kinder geboren, die heute als Kinder der „schlechten Erinnerungen“, „Hass“ oder „Pech“ bezeichnet werden. Mit den „Kindern der Täter“ zu leben, bedeutet gesellschaftliche Ausgrenzung für die Frauen und verwehrt ihnen den Zugang zu sozialer Unterstützung, verstärkt ihr Gefühl der Isolation und damit die zerstörerischen Auswirkungen des Traumas der Vergewaltigung.

Unsere ruandischen Partnerorganisation SEVOTA wirkt mit ihrer Arbeit darauf hin, das Schweigen und Tabu zwischen Müttern und Kindern, aber auch in Familien und der Gesellschaft zu beenden. Gemeinsam mit anderen Organisationen gründeten sie 2005 das Frauenforum „Abiyubaka“ (dt.: „Menschen, die sich gegenseitig helfen“). Durch die therapeutische Arbeit und den Austausch mit anderen Betroffenen erkennen die Frauen, dass sie weder ihre Würde noch ihren Selbstwert verloren haben. Dies bewirkt oft auch eine veränderte Einstellung zu ihren Kindern: Sie beginnen, ihre Kinder anders zu sehen und sie wie andere Kinder zu bewerten.

Einen ähnlichen Ansatz entwickelte SEVOTA später für die Arbeit mit den inzwischen erwachsenen Jugendlichen. Sie setzen sich in organisierten Jugendcamps mit ihrer Herkunft auseinander, lernen sich selbst und ihre Gefühle besser zu verstehen. Viele Jugendliche berichten von einer Stärkung ihres Selbstwertgefühls, der Verbesserung der Beziehung zu ihren Müttern und einige fanden den Mut, sich an einkommensschaffenden Projekten zu beteiligen.

Auch in Bosnien und Herzegowina hat die Tochter einer ehemaligen Klientin von Medica Zenica eine Organisation gegründet, die sich für die Anerkennung und die Rechte der Kinder, die aus Vergewaltigungen hervorgegangen sind – The Forgotten Children of War Association.

Deutschland: Raum schaffen, Erlebtes würdigen, Erinnern ermöglichen

Mit der Kampagne „Niemals nur Geschichte – Gemeinsam gegen sexualisierte Kriegsgewalt“ erinnerte medica mondiale 2020 erneut an die schweren Menschenrechtsverletzungen die Millionen von Frauen und Mädchen im und am Ende des Zweiten Weltkrieges erleiden mussten. medica mondiale macht auf das Schicksal der zahlreichen Frauen und Mädchen aufmerksam, würdigt aber auch ihre Kraft bei der Bewältigung des Erlittenen. Wir schaffen einen Raum für ihre Geschichten und die ihrer Angehörigen, Kinder und Enkel:innen. Wir wollen öffentlich unsere Solidarität zeigen und fordern einen Erinnerungsort für alle Frauen, die damals und seitdem weltweit in Kriegen vergewaltigt wurden. Diese Frauen und ihre Geschichten sind ein Teil von uns.

Bosnien und Kosovo: Kriegsrente für Frauen als Anerkennung erfahrenen Leids durch sexualisierte Kriegsgewalt

Ausgehend von der Bedeutung des Umfeldes arbeitet medica mondiale gemeinsam mit ihren Partnerorganisationen auf den Ebenen von Familien, Gemeinden und Gesellschaften beispielsweise durch Sensibilisierungs- und Öffentlichkeitsarbeit als auch durch politische Frauenrechtsarbeit. Ziel ist es, dass Schritt für Schritt Frauen sowie nachfolgende Generationen über ihre Erfahrungen sprechen können und diese anerkannt werden.

So hat medica mondiale gemeinsam mit Partnerinnenorganisationen erwirkt, dass von sexualisierter Kriegsgewalt betroffenen Frauen in Bosnien und Herzegowina und im Kosovo inzwischen von der Regierung eine monatliche Entschädigungsrente zuerkannt wird. Eine solche Rente trägt dazu bei, dass die betroffenen Frauen und Mädchen in ihrem Leid anerkannt werden und sie zu einer selbstbewussteren, offeneren Haltung finden. Dies wirkt sich wiederum auch positiv auf das Verhältnis zu ihren Kindern und auf das gesamte soziale Umfeld aus. Auch auf gesellschaftlicher Ebene ist die Rente ein wichtiges Signal und zeigt, dass Kriegsvergewaltigungen von politischer Seite als Verbrechen eingeordnet werden und als gesamtgesellschaftliches Trauma sichtbar wird.

Im Kosovo hat die Rente etwa dazu geführt, dass in der Gesellschaft über das Jahrzehnte stark tabuisierte Thema Kriegsvergewaltigung offener gesprochen werden kann und Betroffene auch öffentlich ihre Stimmen erheben. 2019 erschien das Buch „I am Anemone“, in dem 25 Klientinnen von Medica Gjakova ihre Geschichten erzählen.

„Schweigen. Das Schlimmste ist das Schweigen über das, was ,damals` mit Oma, Opa (…) passiert ist. Man fühlt, dass etwas passiert ist, aber keiner redet mit einem darüber. Und am Ende fühlt man sich selbst komisch, und weiß nicht warum.“

Christiane, Besucherin einer Veranstaltung von medica mondiale zum Thema transgenerationales Trauma

„Nur was wir kennen, können wir erkennen. Und nur was wir erkennen, können wir auch heilen. Vererbte Wunden verursachen heutiges Leid, und es ist kein Luxus, uns diesen vererbten Wunden zuzuwenden.“

Katharina Drexler, Autorin des Buches „Ererbte Wunden heilen“