Irak – Autonome Region Kurdistan

Der Irak kommt nicht zur Ruhe. Jahrelange Sanktionen, bewaffnete Konflikte und politische Instabilität hinterlassen Spuren. Viele Frauen im Zentralirak und in der Autonomen Region Kurdistan im Irak (Kurdistan Region of Iraq - KRI), im Norden des Landes, sind in ihrer persönlichen Entfaltung und ihren Möglichkeiten, selbstbestimmt zu leben, teils stark eingeschränkt.
Geschlechtsspezifische Gewalt im Irak weit verbreitet
Aus Syrien und innerhalb des Iraks geflüchtete Frauen und Mädchen sind verstärkt von sexualisierter Gewalt bedroht. Geschlechtsspezifische Gewalt ist im Irak weit verbreitet. Zivilgesellschaftliche Kräfte, die sich für Frauen- und Menschenrechte einsetzen, geraten zunehmend ins Visier religiöser Fundamentalist:innen, des Staates und bewaffneter Milizen. Trotz der Bedrohung machen sich Frauenrechtler:innen weiterhin stark für ein gleichberechtigtes und sicheres Leben für Frauen und Mädchen.
„Wenn wir es schaffen, dem Leben der Frauen wieder Sinn zu geben, hilft ihnen das bei der Genesung.“
Zehn Fakten über Frauenrechte im Irak
1. Recht auf Schutz vor Gewalt nicht durchgesetzt

Die irakische Verfassung verbietet jede Form von Gewalt in der Familie. In der Autonomen Region Kurdistan im Irak ist der Schutz vor Gewalt gegen Frauen, einschließlich weiblicher Genitalverstümmelung, zusätzlich im 2011 verabschiedeten Familiengesetz verankert und steht unter Strafe. Doch es fehlt der politische Wille, das Recht auf Schutz vor Gewalt tatsächlich durchzusetzen.
Religiös-konservative Normvorstellungen
Gesellschaftlich stehen Frauenrechten religiös-konservative Normvorstellungen und wachsender Extremismus sowie Militarismus entgegen. So erleben Frauen und Mädchen im Irak weiterhin Gewalt und Diskriminierung. Besonders häusliche und sexualisierte Gewalt nehmen infolge bewaffneter Konflikte und anhaltender Unsicherheit zu.
2. Diskriminierende Gesetze
Im Zentralirak wie in der KRI gilt eine religiöse Gesetzgebung. Das heißt, dass jede anerkannte religiöse Gruppe familien- und personenstandrechtliche Angelegenheiten regeln kann. Diese Gesetze und ihre oft konservative Auslegung begünstigen sexualisierte Gewalt und Diskriminierung von Frauen und Mädchen. Überlebende sexualisierter Gewalt werden nicht nur stigmatisiert. Aufgrund ihrer wirtschaftlichen Abhängigkeit haben sie auch kaum Chancen, sich aus einer Gewaltsituation zu lösen oder rechtlich dagegen vorzugehen.
3. Sexualisierte Gewalt als Kriegswaffe

Die Verbrechen an den Jesid:innen und anderen Minderheiten im Jahr 2014 durch den sogenannten Islamischen Staat sind das jüngste Kapitel sexualisierter Kriegsgewalt gegen Frauen im Irak. Die UN, das EU-Parlament und viele weitere nationale Regierungen haben den systematischen Völkermord an den Jesid:innen anerkannt und die Taten des IS als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bewertet.
Insbesondere gilt das für die Verbrechen gegen jesidische Frauen und Mädchen. Sie wurden verschleppt, vergewaltigt und in die Sklaverei verkauft. Schon der damalige irakische Diktator Saddam Hussein setzte in den 1980er Jahren während der Anfal-Kampagne sexualisierte Gewalt gegen kurdische Frauen ein. Auch nach der US-Invasion und dem Sturz des Regimes 2003 wurden nach Berichten von Menschenrechtsorganisationen unzählige Frauen entführt, vergewaltigt und getötet.
4. Jesid:innen und ihre Kinder nach dem Genozid
Jesid:innen, die durch Vergewaltigung in der IS-Gefangenschaft Mutter wurden, waren und sind nach wie vor gezwungen, ihre Kinder in Waisenhäusern oder Lagern zurückzulassen. Die Jungen und Mädchen werden nicht als Teil der jesidischen Glaubensgemeinschaft anerkannt. Für ihre Mütter kommt das gesellschaftliche Stigma um sexualisierte Gewalt hinzu.
Gesetz soll Überlebende besser schützen
Im März 2021 verabschiedete das irakische Parlament ein Gesetz (Yazidi Female Survivor Law), das überlebende Jesid:innen und Überlebende anderer Minderheiten besser schützen soll. Darin werden zudem die strategische Vergewaltigung und Versklavung von Jesid:innen durch den sogenannten Islamischen Staat als Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannt. Mit dem Gesetz wurde eine Generaldirektion für Angelegenheiten der Überlebenden eingerichtet, die für die Entschädigung der Überlebenden im Irak und in der Diaspora zuständig ist. Allerdings mangelt es an der Umsetzung des Gesetzes.
5. Gewalt in der Familie
Neben sexualisierter Kriegsgewalt erleben viele Frauen und Mädchen im Irak Gewalt durch männliche Familienmitglieder. Die Covid-19-Pandemie hat eine „Schattenpandemie“ innerfamiliärer Gewalt ausgelöst. Zwei Drittel der zuständigen Sozialbehörden meldeten einen Anstieg hilfesuchender Frauen. Laut Angaben des Obersten Justizrates wurden in der ersten Jahreshälfte 2022 mehr als 10.000 Fälle von häuslicher Gewalt registriert.
Aus finanzieller Not werden zudem viele Frauen und Mädchen früh oder unfreiwillig verheiratet. Sowohl im Zentralirak als auch in der KRI kommt es immer wieder zu Femiziden. Doch nur selten werden die Morde strafrechtlich verfolgt und dokumentiert.
6. Geflüchtete Frauen und Mädchen besonders gefährdet

Insgesamt sind über eine Million Menschen innerhalb des Iraks auf der Flucht, davon etwa 659.000 in der KRI. Nur rund 15 Prozent der intern Vertriebenen leben in Lagern. Hinzu kommen etwa 258.000 Menschen, die vor dem Krieg in Syrien geflohen sind. Geflüchtete und vertriebene Frauen sind verstärkt von geschlechterbasierter und sexualisierter Gewalt betroffen. Neben häuslicher Gewalt und Frühverheiratung erfahren sie auch wirtschaftliche Gewalt, etwa das Zurückhalten von Geld. Scham, Stigma und der Verlust sozialer Netzwerke hindern sie, gegen die erlebte Gewalt vorzugehen.
Armut und Perspektivlosigkeit
Das Leben vieler Geflüchteter ist geprägt von Perspektivlosigkeit und einem zunehmenden wirtschaftlichen Druck auf Frauen und Mädchen, der sich besonders auf frauengeführte Haushalte auswirkt. Die Zahl der Selbstmorde in den Geflüchtetenunterkünften der Region steigt seit Ende 2020 besorgniserregend an. Seit Anfang 2021 nehmen sich auch immer mehr Menschen in den Aufnahmegemeinschaften das Leben.
7. Krise im Gesundheitswesen
Auf 1.000 Personen kommen im Zentralirak 1,2 Krankenhausbetten und nicht mal ein:e Ärzt:in. In der KRI sind es 1,5 Betten und 1,4 Ärzt:innen. Oft fehlen selbst Basismedikamente. Die Krise im Gesundheitswesen ist Folge von jahrelangem Missmanagement, Korruption und fehlenden Investitionen.
Die meisten Iraker:innen sind nicht versichert und müssen krankheitsbedingte Kosten privat tragen. Patriarchale Normen, Stigmata und Scham erschweren Frauen, die sexualisierte oder geschlechtsbasierte Gewalt erfahren haben, zusätzlich den Zugang zu Gesundheitsdiensten.
8. Gefährliches Anderssein: Diskriminierung von Minderheiten
Lebensformen, die nicht den traditionellen Geschlechternormen entsprechen, werden von der Mehrheit der irakischen Gesellschaft nicht akzeptiert. Für viele LGBTIQ+-Personen bedeutet dies, ihre Identität oder Partner:in nicht frei wählen zu können.
Geschlechtsspezifische Gewalt gegen LGBTIQ+-Menschen
Neben familiärem Druck sind LGBTIQ+-Personen oft brutalen Verbrechen und sexualisierter Gewalt ausgesetzt, auch durch die Polizei. Die Taten bleiben in der Regel unbestraft. Haftbefehle wurden dagegen im April 2021 gegen mehrere LGBTIQ+-Aktivist:innen in Suleimaniya (KRI) erlassen. Der Vorwurf: „Unmoralisches Verhalten“.
9. Die Jugend ist die Hoffnung
Scheint die Frauenrechtslage im Irak angesichts der anhaltenden Gewalt manchmal aussichtslos, so gibt es dennoch Grund zur Hoffnung: die Jugend. Der Irak ist ein junges Land. Viele junge Männer und Frauen im Zentralirak und in der KRI kämpfen entschlossen und gemeinsam für einen sicheren und gerechteren Irak.
10. Meilensteine der Frauenrechtsarbeit

Seit Jahren setzen sich Frauenrechtler:innen im Irak für Gleichberechtigung und den Schutz von Frauen und Mädchen ein. In der KRI bewirkten sie die Einrichtung staatlicher Organe, die die Umsetzung von Frauenrechten überwachen sollen. Seit 2011 stellt ein Gesetz häusliche Gewalt in der KRI unter Strafe. Im Zentralirak blockiert das Parlament seit 2019 ein solches Gesetz. Als eines der ersten Länder der Region hat der Irak einen Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Resolution 1325 aufgestellt. Ein erster Strategieplan gegen geschlechtsbasierte Gewalt wurde Anfang 2022 festgelegt.
(Stand: 10/2021)
Zahlen & Fakten aus der Praxis
Partnerorganisationen:
- EMMA - Organisation for Human Development
- Konsortialpartnerin Haukari mit den lokalen Partnerorganisationen Khanzad und PDO
Projektregionen:
- Kurdische Autonomiegebiete
Projektschwerpunkte:
- Aufbau eines schützenden Umfelds für gewaltbetroffene Frauen und ihre Kinder
- Entwicklung eines Konzepts zur Mitarbeiter:innen-Fürsorge in einer Konfliktregion
- Unterstützung und Beratung von Frauen mit geschlechtsspezifischen Gewalterfahrungen in Geflüchtetenunterkünften und Gastgemeinden
Finanzierung (Mittelgeber):
- Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ)
- Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ GmbH)
- Eigenmittel
Quelle: Jahresbericht 2021
Arbeitsschwerpunkte
Seit 2014 engagiert sich medica mondiale für gewaltbetroffene Frauen und Mädchen in der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak, die neben Geflüchteten aus Syrien sehr viele intern Vertriebene aufgenommen hat. 2016 hat medica mondiale ein Büro in Dohuk eröffnet, das die Arbeit vor Ort koordiniert.
1. Ganzheitliche Unterstützung für Frauen und Mädchen

Seit 2018 arbeitet medica mondiale mit der Frauenrechtsorganisation EMMA zusammen. Sie verfolgt das Ziel, geschlechtsspezifische Gewalt zu beseitigen und Frauen zu stärken. In Erbil, Dohuk und Shekhan bietet EMMA direkte Anlaufstellen für von Gewalt betroffene oder bedrohte Frauen.
Von psychosozialer Beratung über Rechtshilfe bis hin zu Lehrangeboten
Psychosoziale Angebote stabilisieren und unterstützen Überlebende bei der Verarbeitung des Erlebten. Durch Lehrangebote wie Alphabetisierung und Rechtsberatung werden Frauen dabei unterstützt, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Mit mobiler Beratung in Geflüchtetencamps will EMMA auch diejenigen Frauen erreichen, für die der Zugang zu ihren Rechten und Schutz umso schwieriger ist.
Empowerment gewaltbetroffener Frauen und Mädchen

Im Rahmen der Kooperation mit The Lotus Flower seit 2021 werden von Gewalt betroffene Mädchen und Frauen gestärkt: Alphabetisierungs-, Box- und Selbstverteidigungskurse dienen zur Stärkung von Selbstvertrauen, Wohlbefinden, physischer und psychischer Gesundheit und Fitness.
2. Aufklärung und politische Advocacy-Arbeit

Unsere feministische Partnerorganisation EMMA sensibilisiert Regierungsinstitutionen für den Umgang mit Gewaltüberlebenden und betreibt intensive Lobbyarbeit auf politischer Ebene: für Gewaltprävention, den Schutz und die Rechte von Frauen und Mädchen. Explizit setzt sich EMMA für jesidische Frauen und ihre Kinder ein, die während oder nach ihrer Gefangenschaft beim sogenannten Islamischen Staat (IS) geboren wurden. EMMA sensibilisiert gleichzeitig das soziale Umfeld von Überlebenden für deren schwierige Situation, ihre Bedürfnisse und Rechte.
Sensibilisierung für die Situation jesidischer IS-Überlebender
Die Frauenrechtsorganisation The Lotus Flower spricht durch gezielte Sensibilisierungs-, Kampagnen- und Advocacy-Arbeit zu Frauenrechten und sexualisierter Gewalt jesidische IS-Überlebende, ihre Familien sowie relevante gemeindebasierte, öffentliche und politische Akteur:innen an. medica mondiale setzt sich zudem auf institutioneller und politischer Ebene für die Anwendung des stress- und traumasensiblen Ansatzes im nationalen Gesundheitssystem ein.
3. Nachhaltige Unterstützung: Selbst- und Personalfürsorge

Im Rahmen eines Programms zu Selbst- und Personalfürsorge entwickelt und setzt EMMA in enger Zusammenarbeit mit medica mondiale individuelle und organisationsweite Maßnahmen um. Diese helfen den Teams dabei, langfristig konstruktiv zusammenzuarbeiten und Überlebende sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt mit gleichbleibender Kraft unterstützen zu können. Dies ist besonders wichtig, da sich die Teams im Kontext von Stigmatisierung und vielfältiger sozialer, politischer und wirtschaftlicher Krisen bewegen.
Selbstfürsorge für Gesundheitsfachkräfte
Im Rahmen eines globalen Qualifizierungsprogramms für Gesundheitsfachkräfte setzt medica mondiale in der Autonomen Region Kurdistan bedarfsorientierte Selbst- und Personalfürsorgemaßnahmen um.
4. Qualifizierung von Gesundheitsfachkräften
In der Provinz Dohuk schult medica mondiale Gesundheitspersonal zu sexualisierter Gewalt und traumasensibler psychosozialer Beratung. 2016 haben wir diesen Ansatz mit der Fortführung laufender und dem Beginn neuer Qualifizierungsprogramme verstärkt. Das Regionalbüro in Dohuk koordiniert seither die Aktivitäten vor Ort.
Stress- und Traumasensibilität im Gesundheitswesen
Als Teil eines transnationalen Qualifizierungsprogramms schult das Regionalbüro in Dohuk Gesundheitsfachkräfte im traumasensiblen Umgang mit Überlebenden von sexualisierter Gewalt. Zusammen mit lokalen Entscheidungsträger:innen arbeitet medica mondiale daran, dass Stress- und Traumasensibilität zukünftig zum Standard in den staatlichen Gesundheitseinrichtungen wird. Überlebende sollen einen besseren Zugang zu stress- und traumasensiblen Gesundheitsdiensten erlangen.
5. Unterstützung von Organisationsentwicklungsprozessen
Durch Organisationsentwicklungsmaßnahmen trägt medica mondiale zur organisationalen Stärkung, Stabilität und Nachhaltigkeit der Arbeit ihrer Partnerorganisationen bei. Wir unterstützen beispielsweise bei der Entwicklung von Strategien, Leitlinien und Sicherheitsmanagementsystemen sowie bei der Stärkung von Fach- und Methodenkompetenzen.
(Stand „Arbeitsschwerpunkte“: 07/2022)
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