Westafrika: Mano-River-Region

Sexualisierte Gewalt im Konflikt und Postkonflikt
Zwei Jahrzehnte bewaffneter Konflikte haben die westafrikanische Mano-River-Region geprägt. Obwohl die Bürgerkriege in Liberia und Sierra Leone beendet sind, ist die politische Lage fragil. Politik und Gesellschaft sind tief gespalten. Die Furcht vor Gewalt bestimmt das Umfeld jeder Wahl. Schlechte Regierungsführung, fehlende Rechtsstaatlichkeit, Korruption sowie die Einbindung in ungleichberechtigte globale Wirtschafts- und Entwicklungsbeziehungen verhindern nachhaltige Transformation in der Region. Ein Erbe der Konflikte in der Region ist das hohe Maß an sexualisierter Gewalt. Tausende Frauen und Mädchen wurden in den Bürgerkriegen vergewaltigt. Und auch heute sind geschlechtsspezifische Gewalt und strukturelle Diskriminierung fest in Gesellschaft und Institutionen verankert.
Acht Fakten über Frauenrechte in Westafrika
1. Sexualisierte Kriegsgewalt während der Bürgerkriege
Während der Bürgerkriege in Liberia zwischen 1989 und 2003 wurden zwischen 60 und 70 Prozent der Frauen und Mädchen vergewaltigt. Im Land selbst wurden die Täter bis heute nie strafrechtlich verfolgt, obwohl die liberianische Zivilgesellschaft seit vielen Jahren Gerechtigkeit für die Verbrechen der Bürgerkriegszeit fordert. Der erste Prozess gegen einen ehemaligen Rebellenführer fand in der Schweiz statt. Im Juni 2021 verurteilte ihn das Schweizer Bundesstrafgericht zu 20 Jahren Haft.
2. Sexualisierte Gewalt in sogenannten Friedenszeiten

Sexualisierte Gewalt war 2021 das am häufigsten gemeldete Schwerverbrechen in Liberia. Vergewaltigungen und sogenannte häusliche Gewalt machen 70 Prozent aller gemeldeten Gewaltverbrechen aus. Fast 80 Prozent der überlebenden Frauen und Mädchen sind minderjährig. Zivilgesellschaftliche Proteste gegen sexualisierte Gewalt und Straffreiheit veranlassten die Regierungen in Sierra Leone und Liberia, 2019/2020 den nationalen Notstand und etablierten Aktionspläne zur Bekämpfung sexueller Gewalt.
4. Ebola und Covid-19: Krisen fördern sexualisierte Gewalt

Während der Ebola-Epidemie in Westafrika von 2014 bis 2016 nahmen in Sierra Leone Teenagerschwangerschaften um 50 Prozent zu. Ursachen waren Schutzlosigkeit, steigende Vergewaltigungen oder Überlebensprostitution. In der Covid-19 Pandemie wiederholt sich diese Situation: Liberia registrierte allein im ersten Halbjahr der Covid-19-Pandemie 2020 mehr als 1.000 Fälle sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt.
5. Weibliche Genitalverstümmelung weit verbreitet

Weibliche Genitalverstümmelung wird in Sierra Leone, Liberia und der Elfenbeinküste als gängige Praxis akzeptiert und öffentlich befürwortet. In Liberia ist etwa die Hälfte, in der Elfenbeinküste über ein Drittel der weiblichen Bevölkerung betroffen. In Sierra Leone werden neun von zehn Mädchen beschnitten. Westafrikanische Aktivist:innen kämpfen seit Jahren gegen die traditionelle Praxis, für gesetzliche Verbote und flächendeckende Aufklärung.
6. Viele Mädchen können nicht lesen und schreiben
Die Alphabetisierungsrate von Frauen und Mädchen über 15 Jahren beträgt in Sierra Leone 35 Prozent, bei Männern liegt sie bei 52 Prozent. In Liberia sind 34 Prozent der Frauen und 63 der Männer alphabetisiert. Etwa 20 Prozent der liberianischen Schüler:innen sind sexualisierter Gewalt und Ausbeutung durch ihre Lehrer ausgesetzt.
7. Reproduktive Gesundheit und Teenagerschwangerschaften
Liberia hat eine alarmierend hohe Rate an Schwangerschaften im Teenageralter. Schätzungen zufolge sind durchschnittlich drei von zehn liberianischen Mädchen vor dem 18. Lebensjahr ungewollt schwanger. Über 60 Prozent der Frauen und Mädchen im Alter von 15 bis 49 Jahren hat keinen zufriedenstellenden Zugang zu Familienplanung.
8. Kaum Teilhabe von Frauen an politischen Prozessen

Die westafrikanische Frauenbewegung blickt auf eine lange Geschichte zurück. Sei es im antikolonialen Widerstand, im Kampf für gleiche Rechte oder im historischen Protest von Friedensaktivist:innen, der zum Ende des liberianischen Bürgerkriegs und zur Wahl von Ellen Johnson Sirleaf, Afrikas erster demokratisch gewählter Präsidentin, führte. Obwohl Frauen eine tragende Rolle bei der Befriedung und Demokratisierung ihrer Länder spielten, hat dies nicht zu einer breiten Teilhabe an politischen Führungspositionen geführt. In den Parlamenten in Liberia, Sierra Leone und der Elfenbeinküste beträgt der Anteil an Frauen nur etwa 11 bis 14 Prozent.
Im Vorfeld der Wahlen 2023 in Liberia und Sierra Leone wurden vor Ort Reformen der Wahlgesetze zur Etablierung von Frauenquote in die Wege geleitet, nach Vorbild anderer westafrikanischer Länder wie beispielsweise Senegal. Gleichzeitig bleibt deren Umsetzung ungewiss. Zudem rechnen Frauenrechtsorganisationen mit Anfeindungen und Gewaltattacken gegen weibliche Kandidatinnen während der Wahlen.
(Stand: 2022)
Zahlen & Fakten aus der Praxis
Partnerorganisationen:

- Liberia: ADWANGA, Medica Liberia, Rising Youth Mentorship Initiative, Women Aid Incorporated
- Sierra Leone: AdvocAid, Choices and Voices Foundation for Women and Girls, Forum Against Harmful Practices, Girl2Girl Empowerment Movement, Women Against Violence and Exploitation in Society (WAVES)
- Elfenbeinküste: Centre Féminin pour la démocratie et les droits humains en Côte d'Ivoire (CEFCI)
Projektschwerpunkte:
- Gewaltprävention durch Empowerment, Sensibilisierung und Advocacy-Arbeit
- Stress- und traumasensible Unterstützung für gewaltbetroffene Frauen
- Unterstützung feministischer Organisationen und Netzwerke
Finanzierung (Mittelgeber):
- Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ)
- Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW)/ Welthungerhilfe
- Pro Victimis Foundation
- Medicor Foundation
- Comic Relief
- Eigenmittel
Quelle: Jahresbericht 2021
Arbeitsschwerpunkte
1. Prävention sexualisierter Gewalt

Um sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt zu verhindern, wirken unsere Partnerorganisationen darauf hin, dass Staat und Zivilgesellschaft Verantwortung für den Schutz von Frauen und Mädchen übernehmen. Die Frauenrechtsorganisationen stärken Frauen und Mädchen dabei, sich vor Gewalt zu schützen und ihre Rechte einzufordern.
Liberia: politisches Engagement für Schutz und Prävention
Um tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel anzustoßen, sind unsere Partnerorganisationen auf politischer Ebene aktiv. In Liberia arbeitet Medica Liberia im Verbund mit zahlreichen Frauenrechtsorganisationen sowie dem Frauen- und dem Justizministerium in einer nationalen Task Force zu geschlechtsspezifischer Gewalt, um die Präventions- und Schutzmaßnahmen im Land zu verbessern.
Medica Liberia: Einsatz für Gleichberechtigung und Teilhabe
Medica Liberia war an der Entwicklung des Gewaltschutzgesetzes sowie des liberianischen Aktionsplans zur Umsetzung der UN-Resolution 1325 beteiligt. Diese sollen eine gleichberechtigte Teilnahme von Frauen an friedens- und sicherheitspolitischen Initiativen sicherstellen.
Liberia: gesellschaftliche Aufklärung zur Gewaltprävention

Damit auch das soziale Umfeld von Frauen und Mädchen Verantwortung für deren Schutz übernimmt, klärt Medica Liberia die Bevölkerung auf Marktplätzen, in Schulen und Krankenstationen über Frauenrechte und sexualisierte Gewalt auf. In der Radiosendung „Kenne Deine Rechte“ beantworten die Rechtsberater:innen von Medica Liberia Fragen zu Land- oder Unterhaltsrechten für Frauen. Auch Männer werden gezielt angesprochen und dazu mobilisiert, sich als „Change Agents“ für eine bessere Stellung von Frauen und Mädchen einzusetzen.
Medica Liberia: Gemeinsam gegen Übergriffe auf Schüler:innen
In Folge massiver sexualisierter Übergriffe auf Schüler:innen, initiierte Medica Liberia 2018 gemeinsam mit dem Liberia Feminist Forum einen der größten Protestmärsche des Landes. Sie richteten sich mit einer Aufklärungskampagne unter dem Schlagwort #weareunprotected an Politik und Gesellschaft.
Sierra Leona: politisch engagiert gegen Kinderheirat

In Sierra Leone legt WAVES den Fokus auf den Zugang zu Bildung für Mädchen und kämpft auf politischer Ebene gegen Kinderheirat und weibliche Genitalverstümmlung. 2019 klagte WAVES im Verbund mit weiteren Aktivisti:innen beim Gerichtshof der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS erfolgreich gegen ein Gesetz, mit dem die sierra-leonische Regierung schwangeren Mädchen den Schulbesuch verbot.
Elfenbeinküste: gesellschaftliche Aufklärung zu Gewaltursachen
Das Frauenzentrum für Demokratie und Menschenrechte in der Elfenbeinküste (CEFCI) schafft mit gesellschaftlicher Aufklärungsarbeit Bewusstsein für die Ursachen und Folgen von Genitalverstümmelung und der Verheiratung minderjähriger Mädchen.
2. Solidarische Unterstützung für Überlebende
Frauen und Mädchen, die sexualisierte Gewalt erfahren haben, brauchen adäquate psychosoziale, medizinische, rechtliche und ökonomische Unterstützung. Deshalb bieten unsere Partnerorganisationen den Überlebenden niedrigschwellige Anlaufstellen, trauma-sensible Beratung und Begleitung beim Weg durch die Institutionen an.
Wiedereingliederung und Empowerment von Frauen mit Gewalterfahrung
Außerdem werden Frauen, die aufgrund ihrer Gewalterfahrungen häufig stigmatisiert werden, bei der Wiedereingliederung in ihre Gemeinden unterstützt. Einkommen schaffende Maßnahmen sollen die Frauen stärken und ihnen ermöglichen, unabhängig für ihren Lebensunterhalt zu sorgen.
Liberia: lokale Schutznetzwerke und direkte Beratung

Medica Liberia hat gemeindebasierte Unterstützungs- und Schutznetze aufgebaut, die betroffenen Frauen auch in entlegenen Gemeinden zeitnah Hilfe leisten. Frauengruppen dienen als erste Anlaufstellen. Von Medica Liberia ausgebildete Berater:innen unterstützen betroffene Frauen, begleiten sie zur Polizei oder ins Krankenhaus. Bei Bedarf vermitteln sie zwischen Überlebenden und ihren Familien und beziehen lokale Autoritäten in die Lösung von Konflikten mit ein.
Medica Liberia: Überweisungssystem für gravierende Fälle
In gravierenden Fällen vermitteln die lokalen Schutznetzwerke die Überlebenden an das Team von Medica Liberia in den Provinzhauptstädten. Je nach Bedarf erhalten die Frauen und Mädchen dort psychosoziale, rechtliche oder gesundheitliche Unterstützung.
Liberia: traumasensible Qualifizierung von Institutionen
Viele lokale Autoritäten, die für traditionelle Schlichtung verantwortlich sind, stellen sich nach ihren Erfahrungen mit Medica Liberia immer häufiger auf die Seite der Frauen und unterstützen eine Anzeige vor Gericht. Darüber hinaus schult Medica Liberia Polizist:innen, Anwält:innen, Richter:innen und Lehrer:innen zu den Themen Gender, Gewalt und Menschenrechte sowie im stress- und traumasensiblen Umgang mit Betroffenen sexualisierter Gewalt.
3. Feministische Arbeit und regionale Vernetzung

Während das Ausmaß an sexualisierter Gewalt in der Region seit Jahren zunimmt, sehen sich Frauenrechtsverteidiger:innen in Liberia, Sierra Leone und der Elfenbeinküste mit dem globalen Trend konfrontiert, dass zivilgesellschaftliche Handlungsspielräume kleiner werden. Auch der Zugang zu Finanzmitteln für Frauenrechtsarbeit in der Region schwindet. Die Stärkung feministischer Arbeit und länderübergreifender Vernetzung ist daher ein strategischer Bestandteil der Arbeit in Westafrika.
Stärkung der Frauenrechtsorganisationen vor Ort
Im Rahmen der Zusammenarbeit mit Partnerorganisationen in Liberia, Sierra Leone und der Elfenbeinküste schafft medica mondiale gezielt Möglichkeiten, damit Partnerorganisationen ihre Strukturen, Strategien und Synergien stärken können. Beispiele sind der Aufbau von Finanzierungsstrategien oder Dokumentationssystemen sowie die Einführung von Sicherheitskonzepten und Selbstfürsorgeansätzen.
Feministische Vernetzung stärkt nachhaltig
Auch die Weiterentwicklung von Strategien und Vernetzung mit anderen feministischen Akteur:innen in der Region unterstützen die Organisationen nachhaltig. So soll die Frauenrechtsarbeit in der Region insgesamt gestärkt und gesellschaftlicher Wandel vorangebracht werden. Im Vorlauf der Wahlen 2023 in Liberia und Sierra Leone arbeiten die lokalen Partnerorganisationen an einer nationalen und regionalen Advocacy-Strategie. Seit 2021 trainiert Medica Liberia in einem South-to-South-Learning Ansatz andere Partnerorganisationen.
Empowerment von Mädchen und Frauen
In Liberia haben die Rising Youth Mentorship Initaitive (RYMI) und in Sierra Leone das Girl2Girl Empowerment Movement geschützte Räume geschaffen, in denen sich Mädchen kreativ und politisch verwirklichen und organisieren können. In der Elfenbeinküste hat das Women Center for Democracy and Human Rights Frauen und Mädchen dabei unterstützt, eine eigene Produktion auf die Beine zu stellen. Konkret stellen sie Maniokmehl und Sheabutter her.
(Stand „Arbeitsschwerpunkte“: 07/2022)
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