Frauen und Mädchen auf der Flucht vor Gewalt

Fluchtgrund sexualisierte Gewalt – sexualisierte Gewalt auf der Flucht
Mehr als 120 Millionen Menschen mussten 2024 ihre Heimat verlassen (Quelle: unrefugees.org) , mehr als die Hälfte von ihnen sind Frauen und Kinder. Sie wurden gewaltsam vertrieben, flüchteten vor Kriegen, Konflikten und der Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen. Und vor sexualisierter Gewalt – in Kriegs- und Krisenkontexten sowie in der Familie und dem sozialen Umfeld. Auch während der Flucht steigt das Risiko für Frauen und Mädchen, sexualisierte Gewalt zu erleben. Und selbst nach der Ankunft in der vermeintlich sichereren Aufnahmegemeinde sind geflüchtete Frauen überdurchschnittlich häufig von sexualisierter Gewalt betroffen. Hier wird deutlich: sexualisierte (Kriegs-)gewalt findet als Kontinuum statt, vor, während und nach der Flucht.
Sexualisierte Gewalt als Fluchtgrund
Kriege, Katastrophen, Diskriminierung: Viele Fluchtgründe von Frauen und Männern überschneiden sich. Mit einem Unterschied: Frauen und Mädchen flüchten häufig auch vor geschlechtsspezifischer Gewalt; ,vor Kriegsvergewaltigungen, Zwangsprostitution und Zwangsverheiratung , vor Gewalt im eigenen Zuhause und weiblicher Genitalverstümmelung (FGM).
Sexualisierte Gewalt auf der Flucht
Auch auf der Flucht steigt das Risiko für Frauen und Mädchen, sexualisierte Gewalt zu erleben. Laut UNICEF erfährt fast die Hälfte der Frauen, die aus Ländern südlich der Sahara über Libyen nach Europa flüchten, mindestens einmal sexualisierte Gewalt. Frauen, die alleine reisen, Schwangere, Frauen mit Behinderung oder ältere Frauen sind besonders gefährdet (Quelle: UNCHR). Doch offizielle Zahlen geben nur einen begrenzten Einblick in das Ausmaß des Problems: so ist davon auszugehen, dass die Dunkelziffer der nicht gemeldeten Fälle aufgrund von Sicherheitsrisiken und Stigmatisierung sehr hoch ist.
Die Täter sind in der Regel männlich: Schlepper, Menschenhändler oder männliche Mitgeflüchtete. Auch kommt es immer wieder zu sexualisierter Gewalt durch Polizisten oder Soldaten, die geflüchtete Frauen eigentlich schützen sollten. Zudem nimmt auch die Partnerschaftsgewalt in schwierigen Lebenssituationen wie auf der Flucht oder in Camps zu.
Gelingt es Frauen, in einem vermeintlich sicheren Camp oder einer Geflüchtetenunterkunft in einer Aufnahmegemeinde anzukommen, dreht sich die Gewaltspirale oftmals weiter. In überfüllten Gemeinschaftsunterkünften sind geschützte Räume rar. Da es häufig an der Basisversorgung mangelt, sehen sich beispielsweise in der Demokratischen Republik Kongo viele Frauen gezwungen, „sexualisierte Dienstleistungen“ gegen Lebensmittel oder einen Schlafplatz zu erbringen. Die wirtschaftliche und Versorgungsabhängigkeit verstärkt zudem das Risiko von Kinder- und Zwangsverheiratung.
Sexualisierte Gewalt und Diskriminierung nach der Ankunft
Mangelnde psychosoziale Unterstützung, patriarchale Rollenbilder und geschlechtsspezifische Diskriminierung erschweren Frauen und Mädchen zudem die Integration – auch nach ihrer Ankunft in einem anderen Land. Ein unsicherer Aufenthaltsstatus, Abhängigkeit von Ehemännern oder männlichen Verwandten sowie der beschränkte Zugang zu Sozialleistungen, dem Gesundheitssystem und zum Arbeitsmarkt können die Isolation verstärken (Quelle: UNCHR). Dies erhöht wiederum das Risiko, Gewalt zu erleben.
Geschlechtsspezifische Gewalt im Fluchtkontext: Der rechtliche Rahmen
Die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) ist die zentrale völkerrechtliche Grundlage für den internationalen Flüchtlingsschutz. Sie erkennt die Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe als einen Fluchtgrund an – darunter fällt auch geschlechtsspezifische Verfolgung. Demnach sind Frauen und Mädchen, die etwa vor Zwangsverheiratung oder weiblicher Genitalverstümmelung flüchten, asylberechtigt.
Die Istanbul-Konvention (Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt) verpflichtet die Unterzeichnerstaaten – darunter auch Deutschland – zu geschlechtssensiblen Aufnahme- und Asylverfahren. Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs aus dem Jahr 2024 stellt klar, dass geschlechtsspezifische Gewalt im Asylkontext umfassend und im Sinne der Istanbul-Konvention zu verstehen ist, sprich neben physischer und sexualisierter auch psychische Gewaltformen umfasst.
Das deutsche Asylrecht berücksichtigt seit einer Gesetzesänderung im Jahr 2005 ausdrücklich frauenspezifische Fluchtursachen, also Diskriminierung aufgrund des Geschlechts oder sexualisierte Gewalt.
Auch die UN-Resolution 1325 „Frauen, Frieden und Sicherheit“ verpflichtet die Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen, Frauen in Konflikten, auf der Flucht und bei der Migration vor sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt zu schützen.
Unser Einsatz für Frauen auf der Flucht
Wir unterstützen Frauen, die vor Gewalt geflüchtet sind oder auf der Flucht Gewalt erfahren haben, durch Nothilfe und psychosoziale Angebote, mit einkommensschaffenden Maßnahmen und Boxtrainings. Drei Beispiele.
Die DR Kongo gehört zu den gefährlichsten Ländern für Frauen. Rund 130 bewaffnete Gruppen kämpfen um Macht, Land und Bodenschätze – mit Waffen und sexualisierter Gewalt. Immer wieder flammen die Konflikte auf, vor allem im Osten des Landes.
Rund 7,8 Millionen Menschen sind innerhalb der DR Kongo derzeit auf der Flucht (Stand April 2025, Quelle UNCHR), die meisten von ihnen leben als Vertriebene in den drei ostkongolesischen Provinzen Süd-Kivu, Nord-Kivu und Ituri. Auf der Flucht kommt es immer wieder zu sexualisierten Übergriffen. Die meisten geflüchteten Frauen haben zudem ihre Einkommensmöglichkeiten verloren. Um zu überleben, sehen sich viele gezwungen, sich gegen Geld oder Nahrungsmittel für sich und ihre Kinder sexuell ausbeuten zu lassen.
Unsere Partnerorganisation PAIF unterstützt in Nord- und Süd-Kivu Überlebende sexualisierter Gewalt mit ganzheitlichen Angeboten. Die Mitarbeiter:innen begleiten sie zur medizinischen Erstversorgung und bieten psychosoziale Beratung an. Und sie unterstützen Überlebende dabei, kleine Unternehmen aufzubauen. Das eigene Einkommen ist wichtig, denn es kann die wirtschaftliche Unabhängigkeit ermöglichen und so die Selbstbestimmung von Überlebenden sowie ihre Akzeptanz in der Familie und Gesellschaft stärken.
Im Oktober 2023 hatte die pakistanische Regierung angekündigt, Geflüchtete und Migrant:innen ohne Papiere abzuschieben. Hunderttausende Afghan:innen waren daraufhin gezwungen, nach Afghanistan zurückzukehren. Die meisten von ihnen strandeten hinter der Grenze.
Mehr als drei Viertel der Rückkehrer:innen sind Frauen und Kinder. Für sie ist die Situation besonders schwer. Viele haben auf der Flucht nicht nur Gewalt durch pakistanische Sicherheitskräfte erlebt. Auch innerfamiliäre Gewalt ist in Afghanistan weit verbreitet. Zudem haben die Taliban die Rechte von Frauen und Mädchen seit ihrer Machtergreifung im Sommer 2021 gravierend eingeschränkt, das öffentliche Unterstützungssystem für Überlebende ist fast vollständig zusammengebrochen. Unsere Partnerorganisationen befürchten, dass die sexualisierte Gewalt angesichts dieser Notsituation weiter ansteigen wird.
Eine unserer Partnerorganisation, die aus Sicherheitsgründen nicht genannt werden kann, leistete Nothilfe. In der Provinz Jalalabad hat das Team eine Gesundheitsstation in der Nähe von Gemeinden, in denen sich die Rückkehrer-Familien niedergelassen haben, aufgebaut. Hier können sich Geflüchtete kostenlos untersuchen lassen und erhalten bei Bedarf Medikamente. Zwei Fachkräfte bieten psychosoziale Notfallberatung für Überlebende an sowie medizinische Betreuung für Frauen mit psychischen Erkrankungen. Geflüchtete Familien erhalten zudem dringend benötigte Nahrungsmittel und Hygiene-Pakete mit Binden, Unterwäsche und Seife. Das Team bezieht Väter, Onkel und Brüder eng mit ein. Zum einen stellen sie so sicher, dass die Akzeptanz für diese Angebote steigt, zum anderen wollen sie durch Gespräche und Treffen männliche Verbündete für ihren Einsatz für Frauenrechte gewinnen.
Mehr als eine Million Iraker:innen lebt als Geflüchtete im eigenen Land. Viele von ihnen waren 2014 vor den Gräueltaten des sogenannten Islamischen Staats (IS) aus ihren Städten und Gemeinden geflüchtet. Damals hatte der sogenannte Islamische Staat tausende Frauen und Mädchen verschleppt, vergewaltigt und versklavt.
Bis heute fehlt es in den zerstörten Dörfern und Städten an Elektrizität und Wasser, an Krankenhäusern und Schulen. Auch die Sicherheit der Bewohner:innen kann der Staat nicht garantieren.
In den Geflüchtetencamps des Nordiraks haben unsere Partnerorganisation EMMA und The Lotus Flower sichere Räume für Überlebende der IS-Gewalttaten geschaffen. Hier finden Frauen und Mädchen psychosoziale Unterstützung, können Kraft schöpfen, Ausbildungen absolvieren – und durch Boxen neues Selbstbewusstsein entwickeln.