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04. Juli 2018 - Interview

Sexualisierte Kriegsgewalt: „Trauma ist ein ernsthaftes Hindernis für Friedensbildung“

Hunger, Beschuss, Flucht, (sexualisierte Kriegs-) Gewalt, Angst und Tod. Wer einen Krieg miterlebt hat, erleidet körperliche und seelische Verletzungen. Heilt die Zeit all diese Wunden? Was, wenn nicht? „Es ist nie zu spät über sexualisierte Kriegsgewalt zu sprechen, nicht einmal nach 70 Jahren“ sagt Jasna Zecevic, Leiterin der bosnischen Frauenhilfsorganisation Vive Žene. „Ich glaube, dass das Bildungssystem der Diskriminierung mehr Aufmerksamkeit schenken sollte, sodass die heutige Gesellschaft achtsamer mit Kindern und Erwachsenen umgeht, die bestimmte Traumata überlebt haben und erleben“, wünscht sich Ajna Jusic, Gründerin der bosnischen Organisation „Forgotten Children of War“ und Tochter einer Überlebenden. Im Interview sprachen die beiden Frauen über traumatische Kriegserfahrungen, Stigmatisierung von Opfern sexualisierter Gewalt, Versöhnung und Frieden.

In Deutschland haben wir nur wenig über sexualisierte Kriegsgewalt gesprochen. Würdest du sagen, dass es nach über 70 Jahren zu spät ist?

Jasna Zecevic (Vive Žene): „Es ist nie zu spät, über sexualisierte Kriegsgewalt  zu sprechen, nicht einmal nach 70 Jahren. Viele Erwachsene und Kinder stehen mit einer Menge unbeantworteter Fragen da, aufgrund der Mauer des Schweigens in ihren Familien. Sexualisierte Gewalt während oder nach dem Krieg hat langwierige tiefe Auswirkungen auf die Opfer und ihre direkten Familienangehörigen, ob sie darüber sprechen oder nicht. Ein Trauma verschwindet nicht von alleine und Opfer können und werden ihr Leben lang darunter leiden. Besonders wenn sie älter werden, werden ihre Kontrollmechanismen schwächer und ihre traumatischen Erfahrungen kommen wieder an die Oberfläche.

Als Konsequenz sollte es immer spezialisierte Trauma-Zentren in Nachkriegsländern geben, wo professionelle Fachkräfte auf Trauma-Erfahrungen, die an die Oberfläche kommen, aufmerksam werden können und eine angemessene Rehabilitation stattfinden kann. Ein nächster Schritt wäre, Kinder oder andere wichtige Personen aus mehreren Generationen in den Rehabilitationsprozess einzubeziehen, um endlich die richtigen Antworten und Unterstützung zu erhalten. Versöhnung zwischen den Generationen kann stattfinden und das Leben aller Beteiligten wird reicher und vollständiger.“

Warum kann man nicht sagen: Lassen wir allen Schmerz und alle Schuld hinter uns und sehen wir nach vorne?

Jasna Zecevic (Vive Žene): „Trauma ist ein ernsthaftes Hindernis für konstruktive Kommunikation und Friedensbildung. Nach einem Krieg muss eine Gesellschaft in der Lage sein, den BürgerInnen Sicherheit, Gerechtigkeit und eine gemeinsame Zukunftsvision zu bieten. Das ist nicht möglich, ohne die Wunden zu heilen und sich der Vergangenheit zu stellen. Kriegswunden nicht zu heilen bedeutet eine erhöhte Chance für einen erneuten Krieg in der Zukunft.

Ein weiteres Problem betrifft die nächsten Generationen: Kinder werden erstens Teil der traumatischen Erfahrungen ihrer Familie und zweitens der traumatischen Erfahrungen ihrer Gesellschaft. Wird ein Trauma nicht auf individueller, familiärer, gemeinschaftlicher und gesellschaftlicher Ebene behandelt, bietet dies fruchtbaren Boden für fortbestehende tiefe Angst vor 'den Anderen' und macht die Auseinandersetzung mit Aggression sehr schwierig.“

Kannst du beschreiben, was die Probleme in der Beziehung von Überlebenden und ihren Kindern sind und wie sie entstehen?

Jasna Zecevic (Vive Žene): „Überlebende des Krieges haben ihre Wunden und ihre Kinder haben ihre eigenen Wunden oder leiden aufgrund der Wunden ihrer Eltern. Eltern und Kinder leiden je auf ihre eigene Weise, während sie nicht darüber sprechen, um die anderen nicht traurig zu machen. Überlebende des Krieges können sehr schützend und fordernd gegenüber ihren Kindern sein. Sie können gegenüber anderen Personen sehr misstrauisch sein und behalten ihre Kinder so gut es geht in der Familie, enthalten ihnen so eine normale soziale Entwicklung vor.

Manche Eltern sind nicht in der Lage, ihren Kindern das zu geben, was sie brauchen, zum Beispiel bedingungslose Liebe, Akzeptanz, Schutz, Ansporn zu Entwicklung, Selbstachtung und den Mut, ihr eigenes Leben zu leben. Andere Eltern geben ihren Kindern zu viel, ersticken sie mit ihrer 'Liebe'. Kinder des Krieges neigen dazu, Probleme mit ihrer eigenen Identität zu haben, mit ihrem Zugehörigkeitsgefühl, mit Verbundenheit und Kommunikation mit anderen. Die (Mauer der) Stille zwischen den Generationen, Eltern und Kindern, vertieft ihr Trauma und ihre Isolation.“

Ajna, deine Mutter ist Überlebende sexualisierter Kriegsgewalt. Wann hast du erfahren, dass du ein Kind des Krieges bist?

Ajna Jusic (Forgotten Children of War): „Mit 16 Jahren erfuhr ich von meiner wahren Herkunft.“

Haben du und deine Mutter darüber gesprochen?

Ajna Jusic (Forgotten Children of War): „Nach einem Jahr entschied ich, meiner Mutter zu sagen, dass ich die Wahrheit kenne, aber ich wollte alles wissen. Während dieses Prozesses haben meine Mutter und ich andauernd darüber geredet und auf diese Art unsere Wahrheit miteinander geteilt.“

Hast du Unterstützung, wie zum Beispiel psychosoziale Beratung, erhalten?

Ajna Jusic (Forgotten Children of War): „Nachdem ich die Wahrheit herausgefunden hatte, schickte mich eine Lehrerin zu einer Psychologin, welche ich für die folgenden sechs Monate besuchte. Mehrere meiner LehrerInnen waren für mich da, gemeinsam mit der Psychologin, die mir sehr dabei half, die Wahrheit zu akzeptieren.“

Was war deine Motivation, selbst eine Hilfsorganisation zu gründen?

Ajna Jusic (Forgotten Children of War): „Meine Hauptmotivation sind Frauen, die ein solches Trauma überlebt haben und Mütter, die große Kämpferinnen sind. Mütter sind meine Vorbilder, denn sie haben es geschafft, Kinder großzuziehen, ungeachtet ihrer Unwissenheit, ihres Leidens und ihrer Diskriminierung.“

Was ist das Ziel von „Forgotten Children of War“?

Ajna Jusic (Forgotten Children of War): „Das Hauptziel der Organisation „Forgotten Children of War“ ist es, ein gesellschaftliches Bewusstsein zu schaffen für die Existenz von Müttern und ihren Kindern, die durch Krieg in Bosnien und Herzegowina (einschließlich aller Nationen in Bosnien) geboren wurden. Genauso ist es Ziel, Einfluss auf die Stellung und die Rechte der durch Krieg geborenen Kinder zu nehmen.“

Was unternimmt Vive Žene, um Überlebenden und ihren Kindern des Krieges zu helfen, Frieden zu finden und miteinander auszukommen?

Jasna Zecevic (Vive Žene): „Vive Žene bietet Eltern, Kindern und Familien psychosoziale Unterstützung. Wenn es nicht möglich ist, mit der ganzen Familie zu arbeiten, beispielsweise aufgrund ernsthafter mentaler, emotionaler oder Beziehungsproblemen, bieten wir Eltern – allein oder zusammen – und Kindern eine individuelle Behandlung an.

Persönliche Traumata, Fragen, Frustrationen, Unsicherheiten werden durchgegangen und nach einer gewissen Zeit schlagen wir Familiengespräche vor. Nur wenn alle Mitglieder einer Familie miteinander reden möchten, werden diese Gespräche organisiert. Jedes Mitglied einer Familie hat einen Platz in den Gesprächen. Dabei wenden wir Techniken wie gewaltfreie Kommunikation, Rollenspiele oder Familienaufstellungen an. Nach den Familiengesprächen bleibt Vive Žene im Rahmen des Nachsorgeprogramms mit den Familien in Kontakt.“

Warum ist es für eine gewaltfreie, friedvolle Zukunft wichtig, die Geschlechterrollen von Jungen und Mädchen zu verändern?

Jasna Zecevic (Vive Žene): „Bosnien-Herzegowina hat eine traditionbehaftete Gesellschaft. Wir befinden uns im Wandel von einer männerdominierten Mentalität hin zu einer modernen, liberalen und emanzipierten Gesellschaft. Doch in vielen ländlichen Gebieten und manchen Städten bestimmen diese Traditionen noch immer das Zusammenleben. Körperliche, seelisch-emotionale und sexuelle Misshandlungen gab es schon immer in Bosnien und Herzegowina, wie in jedem anderen Land auch.

Doch geschlechtsbasierte Gewalt hat sich nach dem Krieg verstärkt. Die gesellschaftliche Position von Frauen wurde während des Krieges erst stärker, weil sie sehr aktiv und engagiert waren, während die Männer an der Front waren. Nach dem Krieg wurde die Stellung von Frauen wieder unbedeutend. Frauen sind in der Politik, im sozialen Leben, im Arbeitsleben und so weiter kaum vertreten. Geschlechtsspezifische Gewalt ist in manchen (besonders ländlichen) Gebieten sogar 'normal'.

Vive Žene hat es mit zunehmend ernsten Fällen von geschlechtsbasierter Gewalt zu tun, welche ein Ausdruck sehr schwieriger Verhältnisse innerhalb von Familien als auch in der Gesellschaft sind. Weil Jungen und Mädchen in diesen Familien aufwachsen und oft selbst Opfer dieser Gewalt sind, ist die Gefahr groß, dass sie diese Art des aggressiven Verhaltens übernehmen. Vive Žene möchte zu Harmonie in Beziehungen und zu gewaltfreier Kommunikation beitragen und betrachtet es als sehr wichtig, mit Kindern, Jungen und Mädchen zu beginnen.“

Autorin: Christine Vallbracht, Online-Referentin bei medica mondiale

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