„Freundlich zu sich selbst zu sein und frei dafür zu sein,
Spaß und Freude zu erleben, sind keine unangebrachten Frivolitäten in diesem Arbeitsgebiet, sondern eine Notwendigkeit, ohne die man seine beruflichen Verpflichtungen nicht erfüllen kann.“
Fachkräfte in unterstützenden Berufen oder Menschen, die mit Themen wie (Kriegs)Vergewaltigung und in Konfliktregionen arbeiten, sind mit traumatischen Erlebnissen anderer konfrontiert oder erleben Krieg und Gewalt selbst mit. Das ist emotional herausfordernd und kann traumatischen Stress auslösen. Selbstfürsorge stärkt Aktivist:innen, Fachkräfte wie Überlebende und hilft, die eigene Gesundheit zu erhalten und Depression oder Erschöpfung vorzubeugen. Daher ist Selbstfürsorge als Teil einer stress- und traumasensiblen Haltung handlungsleitend für medica mondiale. Mit Informationen rund um das Thema, Definitionen sowie 12 Tipps zur Selbstfürsorge möchten wir Anregungen für eine achtsame Gestaltung des (Arbeits-)Alltags geben.
Selbstfürsorge bezeichnet eine bewusste Handlung, die man vornimmt (oder unterlässt), um der eigenen körperlichen, psychischen und sozialen Gesundheit und dem eigenen Wohlbefinden angemessene Aufmerksamkeit zu schenken.
Dazu gehören Maßnahmen wie:
Quelle „Maßnahmen“: Website von Maria Zemp, Traumafachexpertin und Trainerin für medica mondiale.
Bei Selbstfürsorge geht es darum, freundlich und mitfühlend mit sich selbst umzugehen. Das bedeutet zum Beispiel auch anzuerkennen, dass es oft schwer ist, seine eigenen Grenzen der Belastbarkeit wahrzunehmen und immer wieder eine gute Balance zwischen Anstrengung und Ruhe zu finden. „Ich bin es wert, gut mit mir umzugehen und darauf zu achten, dass andere gut mit mir umgehen.“ – das ist eine Grundhaltung der Selbstfürsorge.
„Selbstfürsorge ist sehr wichtig, damit ich nach einer so stressigen Arbeit mein Privatleben weiterführen kann.“
Selbstfürsorge ist für alle im Alltag stark belastete Personen eine Vorbeugung gegen Erschöpfungszustände und Depression, um das Vertrauen in die Menschen und das Leben nicht zu verlieren. Insbesondere Mitarbeiter:innen von Hilfsorganisationen sind oft hohem Stress ausgesetzt. Es ist emotional sehr herausfordernd, in Arbeitssituationen mit traumatischen Erlebnissen anderer konfrontiert zu sein. Das gilt für Übersetzer:innen wie für Menschenrechtsaktivist:innen.
Für Fachkräfte ist deshalb ein individuelles Konzept der Selbstfürsorge besonders sinnvoll, um die eigene Gesundheit zu erhalten und das professionelle Handeln, das eine hohe kognitive, emotionale und zwischenmenschliche Aufmerksamkeit erfordert, zu stärken. Selbstfürsorge schützt Fachkräfte in ihrer Arbeit, sodass sie nicht nur vom Leiden berührt, sondern auch durch Geschichten von Resilienz, Widerstand und Überleben gestärkt werden.
Handlungsleitend für die Arbeit von medica mondiale ist eine stress- und traumasensible Haltung. Diese Haltung im Miteinander wirkt sowohl auf die Betroffenen als auch auf Aktivist:innen, Fachpersonal und Arbeitsteams stärkend und entlastend. Im Kontext von Krieg und Konflikt können ganze Teams und Organisationen von Traumadynamiken betroffen sein. Überforderung, Teamkonflikte oder Burn-out sind oftmals die Folge. Die Herstellung von Sicherheit und Verbundenheit – beispielsweise durch Mitarbeitenden- und Selbstfürsorge – sowie eine stärkende Achtsame Organisationskultur© leisten einen Beitrag dazu, dass Teams langfristig konstruktiv zusammenarbeiten und Überlebende mit gleichbleibender Kraft unterstützt werden können.
„Bei der Selbstfürsorge geht es wirklich darum, mich selbst zu zentrieren. Das bedeutet auch, dass ich dafür sorgen kann, dass es mir gesundheitlich gut geht, dass ich mich ausruhen kann, dass ich mich um mich kümmern kann.“
Schlafe ich schlecht? Bin ich unkonzentriert, angespannt oder übererregt? Fühle ich mich nach einem Urlaub nicht erholt? All das können Anzeichen einer Überlastung sein. Im Arbeitskontext erleben Dolmetscher:innen im Bereich belastender Themen, Verfahrensberater:innen oder Menschenrechtsaktivist:innen ohne angemessene Wertschätzung und unterstützende Strukturen – zum Beispiel durch Team- und Selbstfürsorge – häufig Überforderung. Das kann zu Teamkonflikten, sinkender Motivation und anhaltender Erschöpfung führen.
Traumatische Erfahrungen zu verarbeiten und Betroffene zu begleiten, kann zwar zu einer Stärkung führen, zum Beispiel durch ein tieferes Bewusstsein für den Sinn des Lebens. Unsere Erfahrung zeigt jedoch, dass Aktivist:innen und Fachkräfte in der internationalen Zusammenarbeit oder Menschenrechtsarbeit häufig überarbeitet und ausgelaugt sind. Sie sind dies angesichts hoher Arbeitsanforderungen und der oft unüberwindbaren Probleme, insbesondere in Krisenregionen. Ohne angemessene Unterstützung kann das zu Überforderung, Teamkonflikten, sinkender Motivation und schließlich anhaltender Erschöpfung oder Burn-out führen.
Die Praxis der Selbstfürsorge sieht für jeden Menschen anders aus, da sie von individuellen Bedürfnissen geprägt ist. Deshalb ist jede Person selbst Expert:in für ihr eigenes Wohlbefinden und damit für eine stärkende Selbstfürsorgepraxis. Regelmäßiger kollegialer Austausch und ein solidarischer Umgang mit Herausforderungen ermöglichen neben Fortbildungen und Supervision, sich seiner eigenen Grenzen bewusst zu werden und eine gute Balance zwischen Anstrengung und Ruhe zu finden. Dabei kann eine Organisation ihre Fachkräfte durch entsprechende Entlastungsangebote und -strukturen stärken.
Lobe dich und andere einmal täglich, frage dich, was dir genau jetzt guttun würde, halte täglich einmal inne oder führe dir regelmäßig deine Stärken vor Augen. Es gibt viele Möglichkeiten, Selbstfürsorge in den persönlichen Alltag zu integrieren. Auch Institutionen und Organisationen tragen Verantwortung dafür, Strukturen und eine Arbeitskultur zu fördern, die die psychosoziale Stabilität aller unterstützt und fördert und Selbstfürsorge ermöglicht.
Selbstfürsorge wirkt sich positiv auf das Selbstwertgefühl aus, sie reduziert nachweislich das subjektive Stresserleben und leistet damit einen entscheidenden Beitrag zur Gesundheit. Selbstfürsorge kann Gewaltüberlebenden dabei helfen, posttraumatische Belastungsreaktionen, wie Schlafprobleme oder Übererregung, selbst zu regulieren, traumatischen Schmerz durch Erfahrungen von Freude und Gelassenheit auszugleichen und so Selbstermächtigung zu erfahren. Aktivist:innen und Unterstützer:innen kann Selbstfürsorge dabei helfen, ihre Fähigkeit zu bewahren, sich vom Leid Überlebender berühren zu lassen und durch Geschichten des Widerstands und des Überlebens gestärkt zu werden. So sind sie eher in der Lage, gegenüber Überlebenden eine Atmosphäre zu entwickeln, die getragen ist von Sicherheit, Verbindung und Stärkung.
Achtsamkeit als Teil der Selbstfürsorge bezeichnet eine innere Haltung und ein Verhalten der nicht-wertenden Aufmerksamkeit auf das bewusste Erleben im gegenwärtigen Moment.
Es geht also um eine beobachtende und beschreibende Wahrnehmung im Hier und Jetzt, so, wie es jetzt gerade ist, ohne es gleich zu bewerten oder verändern zu wollen. Es geht darum, Dinge zu merken und mitzubekommen: Was mache ich hier gerade? Was hat sich verändert? Eine auf Achtsamkeit beruhende Handlung entsteht bestenfalls aus der (Selbst-)Wahrnehmung und -beobachtung heraus und ist eher bewusst als reflexartig.
Während es bei Selbstfürsorge um das eigene Wohlbefinden geht, steht bei der Selbstoptimierung die ständige Verbesserung der persönlichen Eigenschaften und Fähigkeiten mittels Selbstthematisierung, rationaler Selbstkontrolle und permanenter Rückmeldungen hin zur bestmöglichen persönlichen Selbstoptimierung im Fokus. Ein Beispiel für eine solche rationale, disziplinierte und systematische Selbststeuerung ist das „Self-Tracking“ mithilfe von Pulsmessern oder Schrittzählern.
medica mondiales Verständnis von Selbstfürsorge grenzt sich klar ab von einer neoliberalen Sichtweise, die darauf abzielt, die Produktivität von Arbeitnehmer:innen zu optimieren, ohne sich mit schwächenden Strukturen und Dynamiken der Arbeit zu befassen.
Unser Verständnis von Selbstfürsorge reiht sich vielmehr in eine Tradition von Konzepten und Ideen als Teil kollektiver emanzipatorischer Kämpfe und sozialer Bewegungen ein, wie zum Beispiel für die Anerkennung der Erfahrungen von Menschen mit Beeinträchtigungen, und in Kontexten von gemeinschaftlich geführter Peer-Unterstützung und stärkenden Gruppen. Selbstfürsorge überschneidet sich also mit Formen von Machtdynamik und Diskriminierung, wie Patriarchat und Heteronormativität, Rassismus und/oder Behindertenfeindlichkeit. Diese müssen folglich reflektiert werden.
„Sich um sich selbst zu kümmern, ist keine Selbstverliebtheit.
Es ist Selbsterhaltung, und das ist ein Akt der politischen Kriegsführung.“
Darüber hinaus ist unsere politische Sicht auf Selbstfürsorge geprägt durch den Blick auf den patriarchal diskriminierenden Kontext. Fürsorge als "natürliche" geschlechtliche Rolle, die Frauen zugewiesen wird, hat zu Normen und Erwartungen geführt, die Frauen lehren, sich zuerst um andere zu kümmern und dabei ihre eigenen Bedürfnisse zurückzustellen und sich selbst an die letzte Stelle zu setzen. Dabei ist die patriarchale Diskriminierung zumeist verschränkt mit rassistischen Diskriminierungen, wenn etwa im unterbezahlten Care-Sektor besonders viele Women of Colour aus dem Globalen Süden tätig sind. Deshalb erkennen wir Selbstfürsorge als Menschenrecht und als feministischen und machtkritischen Akt an.
Selbstfürsorge ist ein wichtiger Teil der Grundprinzipien von Stress- und Traumasensibilität.
„Jetzt ist es für mich sehr wichtig, mich um mich selbst zu kümmern. Nicht nur, um meine Gesundheit zu erhalten. Sondern auch, um anderen gute Gefühle zu vermitteln. Jetzt sagen die Kolleginnen zu mir: Es war schön, dich zu sehen, du bist so optimistisch, das hat uns sehr geholfen.“
Viele (psychosoziale) Aktivist:innen, Berater:innen und Rechtsanwält:innen haben täglich mit schmerzvollen Erfahrungen ihrer Klient:innen zu tun, die sie verarbeiten müssen. Unser Beratungskonzept hat das Ziel, Stress und Überforderung durch Achtsamkeit und Selbstfürsorge zu vermeiden. Nur so – durch die eigene gestärkte stress- und traumasensible Haltung – kann Beratungsarbeit nachhaltig wirken und die Selbsthilfekompetenz der Klient:innen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, gestärkt werden.
Mit den folgenden 12 Tipps zur Selbstfürsorge möchten wir dieses praktisch erprobte Fachwissen in einfacher Form für alle Menschen zugänglich machen, die sich belastet und gestresst fühlen.
„Denn die meiste Zeit sind wir gefangen. Wir sind zu beschäftigt, um uns um unseren eigenen Körper zu kümmern. Je nachdem, welche Ressourcen mir zur Verfügung stehen, kann ich diese nutzen und für mich selbst sorgen. Und ich denke, es gibt viele Möglichkeiten, wie Menschen das tun können."
„Hier einige Anregungen, die inspirieren sollen. Es ist dabei wichtig, im Kopf zu behalten, dass Selbstfürsorge für jede Person anders aussehen kann: Was bedeutet Selbstfürsorge für Dich?“
Und wenn dann gleich ein „aber“ hinterherkommen will, vertröste es auf später. Jetzt ist die Zeit für ein uneingeschränktes Lob.
Genieße die Reaktion des gelobten Gegenübers. Und auch hier: Keine Einschränkung oder "aber" hinterherschieben.
Richte die Achtsamkeit auf dich selbst, um so ein Gefühl für den eigenen Standpunkt zu bekommen. Beobachte deine Atmung, um die Wahrnehmung nach innen und außen auszudehnen. Schließe die Begegnung mit dir nach drei Minuten ab mit dem Satz: "Ich bin jetzt hier".
Und einmal täglich "Nein" sagen. Genieße die Kraft, die in der Eindeutigkeit dieser Aussagen steckt!
Entdecke sie, schaue in ihr freundliches Gesicht, genieße ihre vertraute Stimme.
(In deinem privaten Umfeld) für eine Umarmung, einen Kuss, eine warmherzige Begegnung! Sollten sie sich nicht von alleine herstellen, sorge selber dafür!
Feiere Veränderungen, Jahrestage, den Wechsel der Jahreszeiten, Feste.
Quelle: Mit freundlicher Genehmigung zur redaktionellen Verwendung der Tipps zur Selbstfürsorge aus „Handbuch Traumakompetenz“ von Lydia Hantke und Hans-Joachim Görges, Psychosozial-Verlag.