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05. Mai 2023 - Interview

„Mutter, was brauchst du?“ – Gewalt und Trauma im Alter

Der Kölner Verein Paula e.V. ist Anlaufstelle für Frauen ab 60 Jahre, die traumatische Ereignisse und Gewalt erlebt haben. Im Interview spricht Martina Böhmer, Expertin für geriatrische Psychotraumatologie und Mitgründerin des Vereins, über Gewalterfahrung im Alter und was Angehörige tun können, um Betroffene zu unterstützen.

Zwei jüngere Hände halten die Hand einer älteren Person.

Ist es in den vergangenen Jahren für alte Frauen leichter geworden, über erlebte sexualisierte Gewalt zu sprechen und Hilfe zu suchen?

Auf jeden Fall. Sexualisierte Gewalt ist mehr und mehr Thema geworden. Durch Öffentlichkeitsarbeit von Organisation wie zum Beispiel medica mondiale oder durch #metoo. Das bekommen alte Frauen natürlich mit. Allerdings sind sie anders sozialisiert. Für viele ist Gewalt noch immer etwas rein Privates. Und sie fühlen sich ans Eheversprechen gebunden: „In guten, wie in schlechten Zeiten“. Uns geht es darum, das Thema für diese Frauen zu enttabuisieren.

Wie kann das gelingen?

Wir müssen weiter öffentlich darüber sprechen. Bei Frauenärzt:innen hängen zum Beispiel nur Bilder von Babys. Da müsste auch mal ein Plakat zum Thema Gewalt hängen, zu Spurensicherung und Ähnlichem. Wir müssen die Bedarfe von Überlebenden in Einrichtungen wie Seniorenwohnheimen oder Tagespflegeeinrichtungen deutlich machen und entsprechende Angebote schaffen. Und wir müssen den Betroffenen Türen öffnen.

Paula e.V. öffnet ihre Türen auch explizit Angehörigen und Fachkräften. Warum?

Damit Fachkräfte und Angehörige besser bestimmte Verhaltensweisen verstehen und damit wir so in Kontakt mit den Frauen selbst kommen. Immer wieder hören wir zum Beispiel von einer alten Frau, die behauptet, vor kurzem sei ihr etwas angetan worden. Dann wird in der Regel lange über die Frage diskutiert, ob das stimmen kann. Dabei wird völlig vergessen, dass diese Frau in diesem Moment ein Problem hat. Das ist so wichtig zu vermitteln: Ich muss nicht erst wissen, ob die Geschichte stimmt. Ich muss die Frau sehen, ihre Reaktionen wahrnehmen.

Was können Angehörige konkret beachten?

Erklären, begleiten. Angehörige sollten anerkennen, dass ihr Gegenüber ein erwachsener Mensch ist, der sein Leben bisher allein bewältigt hat. Natürlich muss die Mutter oder Großmutter sicher in ihrem Umfeld sein und sicher versorgt. Aber statt bestimmte Bewältigungsstrategien abzutun und über den Kopf der alten Frau hinweg zu entscheiden, muss man erst einmal versuchen zu verstehen, dass auch Verhaltensweisen, die wir als Angehörige seltsam finden, der Mutter oder Tante geholfen haben: Wenn eine alte Frau einen gepackten Koffer unter dem Bett hat etwa, oder in der Tageskleidung schläft.

Was sollten wir im Umgang mit Betroffenen auf keinen Fall tun, weil es beispielsweise verletzend wirken kann?

Über sie bestimmen, sie nicht wichtig nehmen. Das Trauma haben sie überlebt, weil sie sich von ihren Gefühlen und Bedürfnissen abgespalten haben. Das darf nicht wiederholt werden. Es geht ganz konkret darum zu fragen: „Mutter, was brauchst du? Was tut dir nicht gut? Wie willst du es haben?“ Und dann können Sie schauen, was machbar ist. Denn natürlich können Sie als Angehörige nicht ihr ganzes Leben auf die Bedürfnisse der alten Frau einstellen.

Wenn Sie an die vergangenen zehn Jahre zurückdenken: Welches Erlebnis in der Beratungsarbeit hat Sie besonders bewegt?

Ich finde eigentlich fast jede Beratung bewegend. Überhaupt, dass die Frauen sich mir anvertrauen. Manche kommen mit einer sehr zusammengezogenen Körperhaltung. Da merke ich: Da lastet ganz viel Schwere auf ihrer Seele. Und wenn die Frauen im Laufe der Beratung auch im Körper mehr Raum bekommen, wenn ich merke, sie kommen raus aus dem Gefühl der Ohnmacht. Das ist toll.

Haben Sie ein Beispiel für uns?

In einer Gruppenberatung erzählte eine Frau, dass sie ihren pflegebedürftigen Mann eigentlich nicht versorgen wolle – und das auch manchmal nicht mache. Nach und nach kam heraus, dass er ihr seit dem Tag der Hochzeit, 50 Jahre lang, Gewalt angetan hatte. Mit meiner Unterstützung schaffte sie es, ihren Mann in eine Pflegeeinrichtung zu geben. Sie hat ihn nie besucht. Und als er starb, ging sie nicht auf seine Beerdigung. „Jetzt bin ich frei“, sagte sie mir. „Jetzt kann ich schauen, ob ich mich nochmals verliebe“. Bei dieser Frau hatte der Hausarzt beginnende Demenz diagnostiziert. Dabei war sie gestresst. Und sie war sicherlich an vielen Stellen getriggert. Man muss sich das mal vorstellen: Jemanden körperlich zu pflegen, der einem jahrelang Gewalt angetan hat.

Gewalt in der Familie bleibt also auch im Alter ein wichtiges Thema.

Natürlich. Die Gewalt hört ja nicht auf, weil der Mann sagt: „Liebelein, jetzt bist du 60, jetzt verprügle ich dich nicht mehr.“ Doch gesehen wird das Thema nicht. Da kommt eine alte Frau mit Oberschenkelhalsbruch ins Krankenhaus – die hatte natürlich eine Stolperfalle im Wohnzimmer. Aber ob sie vielleicht einen gewalttätigen Mann zuhause hat, das fragt keiner.

So können sich Betroffene an Paula e.V. wenden

Weitere Informationen zu Paula e.V. finden Sie