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29. Juli 2020 - Meldung

Traumanachsorge ist Krisenvorsorge: Sexualisierte Kriegsgewalt als gesamtgesellschaftliches Problem anerkennen

Sexualisierte Kriegsgewalt kann lebenslange Auswirkungen haben, persönlich wie gesellschaftlich. Ganzheitliche traumasensible Unterstützungsangebote, soziale Anerkennung des Unrechts sowie der Schutz vor erneuter Gewalt bilden das Fundament für die Verarbeitung der traumatischen Ereignisse. Die Bundesregierung sollte deshalb in ihrem neuen Nationalen Aktionsplan zu Frauen, Frieden und Sicherheit die traumasensible Unterstützung von Überlebenden in den Mittelpunkt ihrer Friedensarbeit stellen und die Praxis von Asylverfahren in Deutschland verändern.

Stigmatisierung von Überlebenden sexualisierter Gewalt

Überlebende sexualisierter Gewalt tragen die Konsequenzen der erlebten Gewalt und sind mit ihren Traumata oft auf sich allein gestellt. Hilfe kommt meist nur von Aktivistinnen, Fachfrauen in autonomen Strukturen und Nichtregierungsorganisationen. Gesellschaftlich werden sie hingegen ausgegrenzt. Und auch in Nachkriegskontexten setzt sich die Diskriminierung weiter fort. Betroffene leiden existentielle Not und erfahren erneute Gewalt. Die anhaltende gesellschaftliche Stigmatisierung verhindert dabei eine Verarbeitung der Traumata. Aber auch auf gesamtgesellschaftlicher Ebene sind die Folgen gravierend. Nicht bearbeitete Traumata können sich auf die nächste Generation übertragen, so dass sich die Gewaltspirale fortsetzt und Ressourcen für Frieden und Wiederaufbau blockiert sind.

Folgen von Vergewaltigung

In Friedenszeiten entwickeln 50-65% der Betroffenen von Vergewaltigungen Symptome posttraumatischer Belastung. In Kriegszeiten kommt eine andauernde Gefahr für Leib und Leben hinzu, wie Vertreibung, Hunger und dem Verlust von Angehörigen. Eine solche Verkettung traumatischer Erfahrungen führt häufig zu besonders starken traumatischen Stressreaktionen. Dazu gehören langanhaltende Depressionen, Angstzustände, Suizidgedanken und Schlafstörungen. Es ist wichtig, diese Reaktionen nicht zu pathologisieren. Vielmehr sollten die traumatischen Stressreaktionen als normale Reaktion auf unerträgliche Gewalterfahrungen in patriarchalen Gesellschaften gewertet werden. Menschenrechtsverletzungen, und nicht etwa die individuelle Verfasstheit der Überlebenden, sind die Ursache von Kriegstraumata.

Gesellschaften müssen Kriegsvergewaltigungen politisch aufarbeiten

Auf Grundlage dieses soziopolitischen Traumaverständnisses müssen wirksame Unterstützungsansätze für Überlebende entwickelt werden. Im Gegensatz zu rein klinischen Kurzzeittherapien sollte das Ziel einer traumasensiblen Unterstützung nicht allein darin bestehen, Traumasymptome der Überlebenden zu reduzieren. Vielmehr braucht es eine Aufarbeitung des Unrechts durch Politik und Gesellschaft, einschließlich der Strafverfolgung der Täter. Nur so kann Stigmatisierung und transgenerationaler Traumatisierung entgegengewirkt werden.

Schulungen für einen traumasensiblen Umgang mit Überlebenden

Traumasensibilität ist eine Haltung, die sich auszeichnet durch Empathie und die Bereitschaft, Betroffene zu stärken. Ihr Ziel ist es, dass Überlebende in ihrer Selbstwirksamkeit gestärkt werden und sich sicher und mit anderen verbunden fühlen. Die Grundprinzipien der Traumasensibilität geben eine handlungsleitende Orientierung für die Mitglieder aller Unterstützungssysteme. Die entsprechenden Institutionen, einschließlich Verwaltung, Justiz, Polizei und Gesundheitswesen, sollten im traumasensiblen Umgang mit Überlebenden sexualisierter Gewalt geschult werden.

Forderungen an die Bundesregierung

Gegenwärtig arbeitet die Bundesregierung an ihrem Dritten Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der Agenda „Frauen, Frieden und Sicherheit“. Die Bekämpfung von sexualisierter Gewalt in bewaffneten Konflikten ist eine zentrale Säule dieser Agenda. Doch wie können Überlebende angemessen unterstützt werden? Wie kann transgenerationaler Traumatisierung entgegengewirkt werden? Und was kann die Bundesregierung tun?

1. Überlebende und ihre Bedürfnisse in den Mittelpunkt der Unterstützung stellen

Die Bundesregierung sollte in ihrem Aktionsplan ganzheitliche und traumasensible Unterstützungsangebote langfristig fördern und somit dazu beizutragen, nachhaltige Schutzstrukturen aufzubauen. Dies schließt den legalen Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen, Notfallverhütung und anderen Leistungen für die sexuelle und reproduktive Gesundheit aller Überlebenden ein.

2. Gesellschaftspolitische Ansätze zur Anerkennung von Traumata fördern

Um gesellschaftlicher Stigmatisierung und transgenerationaler Traumatisierung entgegenzuwirken, müssen das soziale Umfeld insbesondere die Familien, staatliche Unterstützungssysteme, Politik und Gesellschaft in die Bewältigung der Traumata einbezogen werden. Durch die finanzielle Förderung sowie politische Unterstützung von gesellschaftspolitischen Maßnahmen kann die Bundesregierung einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung des erlebten Unrechts leisten. Wichtige Maßnahmen sind Kampagnen und Öffentlichkeitsarbeit zur Veränderung von diskriminierenden Geschlechterstereotypen und gegen Sexismus sowie die Stärkung von Zivilgesellschaft in ihrer Rolle als Watchdog.

3. Strafrechtliche Verfolgung der Täter stärken

Die Bundesregierung sollte die strafrechtliche Verfolgung sexualisierter Gewalt durch Strafverfolgungsbehörden in Deutschland in den Verfahren nach dem Weltrechtsprinzip stärken. Dies erfordert dringend die Bereitstellung von Ressourcen sowie den Aufbau von Genderkompetenz und Trauma-Expertise in deutschen Justiz- und Sicherheitsbehörden. Zudem müssen Gewaltbetroffene, die Zeugenaussagen vor Gericht leisten, über ihr Recht auf Nebenklage aufgeklärt werden und dieses in der Praxis auch wahrnehmen können.

4. Überlebende an Friedensprozessen beteiligen

Um selbstbestimmte Lebensperspektiven zu entwickeln, müssen Überlebende die Möglichkeit erhalten, Friedens- und Wiederaufbauprozesse aktiv mitzugestalten. Die Bundesregierung sollte daher die Beteiligung von Frauen, Aktivistinnen und Überlebenden an diesen Prozessen politisch und finanziell unterstützen.

5. Asylverfahren in Deutschland traumasensibel gestalten

Asylverfahren in Deutschland sollten traumasensibel gestaltet werden, damit Überlebende in einem geschützten Rahmen die Möglichkeit erhalten, sexualisierte Gewalt als Asylgrund zu benennen. Gemäß der Istanbul-Konvention müssen geflüchtete Frauen und Mädchen zudem in Unterkünften vor erneuter Gewalt geschützt werden. Hierfür müssen wirksame Gewaltschutzkonzepte entwickelt und flächendeckend umgesetzt werden.

Quelle: In voller Länge erschienen im Peacelab-Blog des Auswärtigen Amtes, geschrieben von Jeannette Böhme, Politik- und Menschenrechtsreferentin bei medica mondiale.

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