Wir unterstützen Frauen und Mädchen in Kriegs- und Krisengebieten.
Suche
30. April 2020 - Interview

Über Generationen hinweg: Kriegsvergewaltigungen und ihre weitreichenden Folgen

2020 wird der 75. Jahrestag zum Ende des 2. Weltkriegs in Europa und Asien begangen, das Ende des Bosnienkriegs jährt sich 2020 zum 25. Mal und die UN hat 2019 den 7. April zum globalen Gedenktag für den Völkermord in Ruanda erklärt. Im Rahmen solcher Jahrestage werden Kriegsvergewaltigungen aber bis heute kaum thematisiert, auch wenn seit dem 19. Juni 2015 mit dem Internationalen Tag für die Beseitigung sexueller Gewalt in Konflikten global darauf aufmerksam gemacht werden soll. Kriegsvergewaltigungen sind Bestandteil nahezu jeder kriegerischen Auseinandersetzung und sie wirken sich noch lange nach Kriegsende auf die Betroffenen, ihre Familien und auch auf ganze Gesellschaften aus. Karin Griese, Bereichsleiterin Trauma-Arbeit bei medica mondiale, erläutert im Interview die Folgen.

Wie wichtig sind Jahrestage bei der Verarbeitung von Kriegstraumata?

Jahrestage wecken kollektiv schmerzhafte Erinnerungen, Trauer-, Wut- und Ohnmachtsgefühle. Diese müssen wahrgenommen und gewürdigt werden. Dafür braucht es einen guten und sicheren Rahmen, in dem das Unrecht und die Verletzungen, die Menschen auf unterschiedlichste Art im Krieg erlebt haben, benannt und anerkannt werden. Dabei ist es wichtig, nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die heutige Lebenssituation der Überlebenden in den Blick zu nehmen und da, wo es notwendig ist, auf angemessene Unterstützung hinzuwirken. Auch Rituale, Gedenkveranstaltungen und politische Aktionen können eine heilsame Wirkung haben.

Was denken Sie, sind die Gründe, dass Kriegsvergewaltigungen bis heute tabuisiert werden?

Es gibt keine Kultur der Aufarbeitung zu diesem Thema. Kriegsvergewaltigungen stehen nicht nur als Symbol für die Erniedrigung von Frauen und Mädchen, sondern auch für die Ohnmacht und Schwäche der männlichen Gegner. Hier werden traditionelle Geschlechterrollen empfindsam berührt und in Frage gestellt. Kriegsvergewaltigungen offiziell zu benennen und anzuerkennen, würde bedeuten, sich mit diesen Rollen auseinandersetzen zu müssen.

Wie wirkt sich das auf Überlebende sexualisierter Gewalt aus, dass die an ihnen begangenen Verbrechen nicht öffentlich anerkannt werden?

Sie erfahren keine Gerechtigkeit für die Verletzungen, die sie erlebt haben und an deren Auswirkungen sie oft ein Leben lang tragen. Zudem trägt die fehlende öffentliche Anerkennung auch zur Isolation der betroffenen Frauen bei. Ihre schmerzvollen Erfahrungen sind kaum besprechbar – es gibt dafür keinen Raum und kein Gegenüber. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass sich Ängste, Wut, Ohnmachtsgefühle im familiären und gesellschaftlichen Kontext unbewusst weiter übertragen, da sie keinen Ausdruck finden dürfen.

Welche Folgen haben Kriegsvergewaltigungen, die in Kriegen ja nicht einzelne Frauen betrafen, sondern als Massenphänomen stattgefunden haben?

Kriegsvergewaltigungen in großem Ausmaß haben eine zerstörerische Wirkung, nicht nur auf die einzelnen Frauen und Mädchen, sondern auch auf Familien und auf das gesamte soziale Gefüge. Statistiken zeigen, dass etwa die Hälfte der betroffenen Frauen langfristig unter posttraumatischen Stress-Symptomen wie Schlaflosigkeit, unkontrollierbaren Erinnerungsblitzen und Angstzuständen leidet. Hinzu kommen oft soziale Stigmatisierung und Isolation. In Nachkriegsregionen ist eine Normalisierung sexualisierter Gewalt zu beobachten, das Ausmaß an Vergewaltigungen und auch an innerfamiliärer Gewalt nimmt zu.

Welche Folgen hat es für die Familien, (Ehe-)Partner und Kinder, wenn das Trauma nicht aufgearbeitet wird?

Eine Traumatisierung führt häufig dazu, dass das Vertrauen in andere Menschen und in sich selbst zutiefst erschüttert wird. Das wird durch die fehlende öffentliche Anerkennung des erfahrenen Unrechts noch verstärkt. Das kann neben der Isolation der Frauen, zu großen Spannungen und Konflikten in familiären Beziehungen führen. In Folge von traumatischen Stressreaktionen bilden sich auch oft familiäre Stressmuster aus, die aufreibend und belastend für alle sind. Trauma-Symptome können innerhalb der Familie und auch in die nächsten Generationen etwa in Form von Übererregbarkeit oder Verlustängsten übertragen werden. Auch negative Denkmuster wie „Ich bin schuld“ können unbewusst weitergegeben werden. Wichtig ist zudem, dass Tabuthemen das Entstehen von Nähe im familiären Miteinander beeinträchtigen.

Was bräuchten die betroffenen Frauen, die Familien, aber auch wir als Gesellschaft damit Heilung stattfinden kann?

Das Tabu muss – im Sinne der betroffenen Frauen – behutsam gebrochen werden. Die öffentliche Anerkennung der geschlechtsspezifischen Kriegsverbrechen, die Frauen und Mädchen auf Seiten aller Kriegsparteien erlebt haben, ist auch ein wichtiger Aspekt. Dabei ist eine differenzierte Wahrnehmung wichtig, die Frauen nicht nur in der Opferrolle zeigt, sondern auch ihre Überlebensstärke würdigt.

Darüber hinaus muss es deutlich mehr niedrigschwellige Beratungs- und Therapieangebote sowohl für betroffene Frauen jeder Altersgruppe als auch für ihre Angehörigen geben. Dabei ist es wichtig zu wissen, dass im höheren Alter durch veränderte Gedächtnisprozesse, eingeschränkte Mobilität und Pflegebedürftigkeit häufig zurückliegende traumatische Erfahrungen reaktiviert werden. Dies wird meist nicht erkannt. Um darauf adäquat reagieren zu können, braucht es  trauma-sensible  Behandlungs- und Versorgungsstandards in Kranken- und Pflegeeinrichtungen und entsprechend ausgebildetes Pflegepersonal. So kann nicht nur eine erneute Verletzung vermieden, sondern möglicherweise auch im hohen Alter noch eine Chance für Entlastung und Verarbeitung gegeben werden.
 

Verwandte Themen

Themen-Special Gewalt gegen Frauen im Zweiten Weltkrieg