Nordirak: Mütter und ihre Kinder aus Vergewaltigungen durch IS-Kämpfer
Mit der Einnahme der zweitgrößten irakischen Stadt Mossul und der Besetzung eines großen Teils des Landes vor rund fünf Jahren, wurden Tausende Frauen und Mädchen von Kämpfern des sogenannten Islamischen Staates verschleppt. Den Großteil bildeten schätzungsweise 6.000 Jesidinnen, hinzu kamen Turkmeninnen und Schiitinnen. Sie erlitten schwere Traumatisierungen aufgrund teils jahrelanger sexueller Versklavung, Vergewaltigung und weiterer Folter durch die IS-Terroristen. Einige konnten in Laufe der Zeit fliehen oder von Rebellen befreit werden.
Rückkehr aus sexualisierter Sklaverei – empfangen von Verachtung und Gewalt
Gelang es Frauen und Mädchen trotz aller Gefahren aus der IS-Sklaverei zu fliehen, wurden sie von ihren Familien oft als unrein betitelt, verstoßen und im Stich gelassen. Ebenso prägt (sexualisierte) Gewalt in der eigenen Familie ihre Rückkehr. Selbstmord ist ein aus Verzweiflung gewählter Ausweg, den manche Frauen wählen, um die körperlichen und seelischen Leiden zu beenden, wenn massive Ausgrenzung und Verachtung als weitere traumatische Erfahrung das Leben unerträglich machen. Etliche Frauen schlagen sich beispielsweise in verwaisten, baufälligen Häusern oder in Flüchtlings-Camps alleine durch. Sie bekommen keine oder nur wenig Unterstützung, um die erfahrene Gewalt zu verarbeiten.
Unsere Partnerorganisation EMMA ist sehr engagiert im Einsatz inner- und außerhalb der Camps: Sie bietet den Überlebenden sexualisierter Gewalt unter anderem psychosoziale und rechtliche Beratung an. Teil unseres Netzwerkes vor Ort sind außerdem die Hilfsorganisationen KHANZAD, HAUKARI und PDO (People’s Development Organization): Sie sind mit all den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln für die Überlebenden im Nordirak aktiv, um sie und ihre Familien für eine gewaltfreie Zukunft in Würde und Gerechtigkeit zu stärken. „Jedes unbehandelte und unterdrückte Trauma wirkt fort. Es zerstört das Gesellschaftsgefüge auf lange Zeit.“, beschrieb Monika Hauser in ihrer Eröffnungsrede der Konferenz die langfristigen Auswirkungen von fehlender Unterstützung und Solidarität gerade mit den Überlebenden von sexualisierter Gewalt.
2015 entschied das religiöse Oberhaupt der JesidInnen, Baba Sheikh, mittels eines religiösen Rechtsurteils (Fatwa), dass die entführten Frauen wieder in die sehr strenge und konservative Religionsgemeinschaft aufgenommen werden sollen. Es wurde als religiöse Pflicht jeder Familie verkündet, die Überlebenden der sexualisierten Kriegsgewalt wieder willkommen zu heißen und sie zu ehren für ihr erlittenes Leid. Für viele Frauen war dies zumindest ein erster Schritt für die Anerkennung als Kriegsopfer und damit die Verbesserung ihrer Lage.
Kein Ende der Gewalt: Diskriminierung der Kinder aus IS-Vergewaltigungen
Lange ignoriert wurde indes das Schicksal der Kinder, die während der IS-Gefangenschaft gezeugt wurden. Sie werden von vielen Menschen in ihrer Heimat als „IS-Bastarde“ beschimpft und ausgegrenzt. Nach irakischem Recht sind die Kinder eines muslimischen Mannes zudem automatisch Muslime. Viele Frauen und Mädchen, die vom IS versklavt worden waren, mussten ihre Kinder verstoßen oder sie wurden ihnen bei der Einreise kurzerhand von den irakischen Behörden abgenommen. In Mossul leben Tausende dieser verstoßenen Kinder in Waisenheimen oder bei Pflegeeltern. Monika Hauser hält dies für eine fatale Entwicklung: „Alleine in Heimen aufzuwachsen, mit dem Label eines ‚IS-Bastards‘, wird eine neue extrem traumatisierte Generation heranwachsen lassen.“
Jetzt passierte kürzlich das lang Ersehnte, wofür die Frauenaktivistinnen von EMMA schon lange kämpfen: Zeitgleich mit dem Beginn der Friedenskonferenz verkündete der Hohe Jesidische Geistliche Rat die Entscheidung, alle Kinder, die aus der Gefangenschaft der islamischen Terrormiliz zurückkehrten, müssten in der jesidischen Gemeinschaft willkommen geheißen werden. Dieser religiöse Erlass war ein Novum, da die Aufnahme in die jesidische Gemeinschaft nur durch die Geburt und jesidische Eltern möglich war. Hoffnung erfüllte die Herzen vieler Mütter: Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft mit ihren Kindern ohne Verachtung und Vorurteile. Doch es kam anders. Wenige Tage nach der Verkündung der Fatwa wurde berichtigt, dass Kinder aus Vergewaltigungen durch IS-Kämpfer weiterhin von dieser Regelung ausgeschlossen seien.
Die Zersplitterung der Gesellschaft überwinden – Heilung ermöglichen
Diese Diskriminierung von Überlebenden sexualisierter Gewalt und ihren Kindern aus Vergewaltigungen ist ein weltweites Phänomen. medica mondiale ist damit in allen Kriegs- und Krisengebieten konfrontiert: Sei es in Bosnien-Herzegowina, in Ruanda oder in Afghanistan. Die Überwindung der traumatischen Kriegserlebnisse wird damit erschwert. Die Heilung der körperlichen und seelischen Verletzungen sowie die nachhaltige Vermeidung von Gewalt sind nur in einem gemeinsamen solidarischen Kraftakt möglich.
Monika Hauser: „Wenn die Opfer des Krieges nach dem Krieg immer wieder erneut Gewalt erfahren und ausgegrenzt werden, wird der Krieg niemals wirklich enden. Allgemeines Misstrauen untereinander, die Unterteilung und abgrenzende Bewertung von Opfergruppen: Hier müssen unsere politischen, humanitären und psychosozialen Maßnahmen unterstützend ansetzen, um die Zersplitterung der Gesellschaft zu überwinden!“
Autorin: Christine Vallbracht, Online-Referentin bei medica mondiale
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