Vergewaltigungen als Kriegswaffe – und Ausdruck patriarchaler Strukturen
Frau Hauser, die Hamas hat bei ihrem Überfall in Israel Frauen und Mädchen erniedrigt, entblößt, vergewaltigt. In den russisch besetzten Gebieten in der Ukraine gehört sexualisierte Gewalt zum Unterdrückungssystem. Reagiert die Weltöffentlichkeit jetzt verstärkt auf diese Verbrechen – obwohl sie doch weltweit jeden Tag geschehen?
Eigentlich schaut die Welt bereits seit dem Krieg im heutigen Bosnien und Herzegowina Anfang der 1990er Jahre auf sexualisierte Kriegsgewalt. Das war der erste Krieg weltweit, bei dem die internationale Öffentlichkeit verstanden hat, dass im Krieg massenhafte Vergewaltigungen strategisch eingesetzt werden. Die Berichterstattung damals war aber sehr sensationsgetrieben und skandalisierend, die Frauen wurden erneut objektiviert und instrumentalisiert. Dieser Umgang mit sexualisierter Kriegsgewalt, die fehlenden Unterstützungsangebote für die Überlebenden und nicht zuletzt diese Form der Berichterstattung, haben mich dazu gebracht, medica mondiale zu gründen.
Sexualisierte Gewalt gibt es in nahezu jedem Krieg. Wieso wurde sie früher weniger wahrgenommen?
Weil sie früher als übliche Kriegs-Nebenerscheinungen galt, quasi als "unvermeidlicher Kollateralschaden des Kriegs". Es war harte feministische Arbeit, bei politischen Institutionen wie den UN ein entsprechendes Bewusstsein für diese Verbrechen zu schaffen.
Welche Botschaft an den Feind senden diese Taten?
Sie ist zutiefst patriarchal. Sie lautet: Du kannst noch nicht mal deine Frauen schützen! Wir können sie vergewaltigen, schwängern, sie dazu zwingen, unsere Kinder zu gebären. Ziel ist, den innersten Kern einer Gesellschaft zu brechen. Diese Funktionalisierung von Vergewaltigungen sehen wir immer wieder. Sie können auch kriegsstrategisch eingesetzt werden ...
... aber die Demoralisierung des Feindes ist doch auch eine Strategie ...
Natürlich, doch es kann darüber hinaus noch um andere politische Interessen gehen. Zum Beispiel um Vertreibung, sogenannte "ethnische Säuberungen". Die Bevölkerung soll massenhaft fliehen, soll nachhaltig aus bestimmten Regionen vertrieben werden. Um eine Gesellschaft zu terrorisieren, sind Vergewaltigungen ein sehr effizientes Mittel. Das haben wir in Bosnien und Herzegowina, im Kosovo, in Ruanda und auch in der Ukraine gesehen – zum Beispiel in Butscha, wo viele Frauen vergewaltigt und anschließend ermordet wurden.
Früher war sexualisierte Kriegs-Gewalt ein Kollateralschaden, heute ist sie Kriegsstrategie?
Wir bei medica mondiale sagen, diese Betrachtung greift zu kurz. Unser Verständnis sieht sexualisierte Gewalt als Kontinuum. Sie gibt es vor, während und nach einem Krieg. Im Krieg eskaliert das, was auch schon zuvor in den Gesellschaften vorhanden war. Das hat nicht immer etwas mit Strategie zu tun. Und wenn es tatsächlich angeordnet wird, ist die Befehlskette kaum lückenlos nachweisbar. Es gibt keinen Zettel auf den Milosevic geschrieben hat: "Jetzt müsst ihr die Frauen vergewaltigen..." Durch internationale Gerichtshöfe gibt es wegen solcher Verbrechen leider bis heute sehr wenige Verurteilungen.
Doch in Männerbünden wie dem Militär gibt es doch ein Gewährenlassen durch Vorgesetzte, stillschweigende Übereinkünfte, wenn es um Gewalt gegen Frauen geht.
Richtig. Sexualisierte Gewalt sehen wir immer dann, wenn sie von der Führung bagatellisiert oder toleriert wird, oder die unterstellten Männer dahingehend ermutigt werden – auch, wenn die Befehlskette kaum nachweisbar ist. Dass Putin die Täter von Butscha als Helden geehrt hat, ist wie eine Art Code zu verstehen, dass er die Gewalt durch seine Soldaten unterstützt. Dennoch ist es wichtig zu begreifen, dass sexualisierte Gewalt ein Kontinuum ist.
Weil im Krieg eskaliert, was es in der Gesellschaft bereits gab?
Ja. Und das setzt sich auch nach Kriegsende fort. Wir müssen immer auch auf unsere eigenen Gesellschaften gucken: Vergewaltigungen im Krieg sind deshalb möglich, weil es sie auch in Nicht-Kriegszeiten gibt. Sie sind Teil patriarchaler Strukturen. Nur wenn es gelingt, die zugrundeliegenden frauenfeindlichen Strukturen und Einstellungen aufzubrechen und Geschlechtergerechtigkeit zu schaffen, können Frauen und Mädchen gewaltfrei leben.
Die Terrormiliz IS hat sexuelle Gewalt und Versklavung gezielt eingesetzt. Die Hamas war dafür bisher nicht bekannt. Warum die Entgrenzung der Gewalt am 7. Oktober?
Ganz generell geht es immer auch um die Möglichkeiten. Es braucht die Gelegenheit zu dieser Form der Gewalt, und die Hamas hat sie sich mit ihrem schrecklichen Überfall nach aktuellen Erkenntnissen gezielt geschaffen. Hinzu kommt die Entgrenzung durch den Druck der Peer Group, das gegenseitige Aufputschen, um den Gegner in extremster Form zu entmenschlichen. Dass die Hamas dazu sexualisierte Gewalt als Machtdemonstration eingesetzt hat, ist inzwischen eindeutig dokumentiert.
Wie wichtig sind solche Belege für medica mondiale?
Wir wissen um die Gefahr und das Stigma, die von falschen Informationen und einer Instrumentalisierung für die Überlebenden ausgehen. Gerade sexualisierte Kriegsgewalt wird oft instrumentalisiert und politisiert. Daher brauchen wir Zeit, um uns einen Überblick über die Lage zu verschaffen, umso mehr, wenn wir selbst nicht in der Region tätig sind und keine Partnerorganisationen vor Ort haben. Im Fall der Hamas gibt es mittlerweile mehr-hundertfache Belege für Fälle massiver sexualisierter Gewalt. Auch dank dem Mut von Frauen, die bereit waren, zu sprechen ...
... was nach solchen Verbrechen und der Traumatisierung der Opfer ja keineswegs selbstverständlich ist ...
Frauen zu vergewaltigen, schwer zu verletzen, zu verschleppen sowie die explizite Zurschaustellung von Frauenkörpern – all dies zeugt von einem extremen Frauenhass. Auch hier verbunden mit der Botschaft an eine ganze Gesellschaft: Eure Armee kann Euch nicht schützen, wir können Euch angreifen und eure Frauen vergewaltigen. medica mondiale verurteilt die terroristischen Angriffe der Hamas und die sexualisierte Gewalt auf das Schärfste und unsere volle Solidarität und unser Mitgefühl gelten den Überlebenden und allen Betroffenen.
Welches Männlichkeitsverständnis und Sozialgefüge in bewaffneten Gruppen befördern solche Gewalttaten?
Militarismus in seiner aktuellen Form ist per se extrem patriarchal. Und Armeen haben in der Regel eine ausgeprägte Männer-Sozialstruktur – selbst wenn sich da in den vergangenen Jahrzehnten einiges verändert hat.
Sie sprachen davon, dass sexualisierte Kriegsgewalt eine effiziente Waffe ist. Unter welchen Folgen leiden die Betroffenen?
Die Folgen sind meist langfristig, anhaltend und tiefgehend. Vor allem, wenn die Frauen keine Unterstützung und kein Verständnis erhalten. Die familiären Strukturen, das soziale Gewebe der Frauen wird nachhaltig angegriffen. Die Frauen wissen, dass nach einer Vergewaltigung die Gefahr besteht, dass sie aus ihrer Gemeinschaft ausgeschlossen werden. Sie werden häufig extremst stigmatisiert. Die psychischen Folgen davon können ein Leben lang anhalten. Wenn die Ehre des Mannes und der Familie an den unversehrten Körper der Frau gebunden ist – da unterscheidet sich das patriarchale Denken der Täter nicht von dem der Männer in der angegriffenen Gesellschaft – sind die Folgen fatal.
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Lesen Sie das ganze Interview auf der Seite der Frankfurter Rundschau.
medica mondiale blickt mit Sorge auf die Eskalation in Nahost und wendet sich entschieden gegen Antisemitismus und anti-muslimischen Rassismus.
medica mondiale verurteilt die terroristischen Angriffe der Hamas und die sexualisierte Gewalt gegen Frauen in Israel auf das Schärfste. Unsere volle Solidarität und unser Mitgefühl gelten den Überlebenden und allen Betroffenen, ihren Familien und Hinterbliebenen.
Das Wichtigste ist, die Überlebenden zu unterstützen. Ihre Bedarfe und Sicherheit müssen im Fokus stehen und Priorität haben. Überlebende sexualisierter Gewalt brauchen sofort und umfassend Schutz sowie stress- und traumasensible medizinische und psychosoziale Unterstützung. Die Gewaltverbrechen müssen entlang der Bedarfe und Bedürfnisse der Überlebenden und der Hinterbliebenen dokumentiert, untersucht und strafrechtlich verfolgt werden.
Wir blicken mit großer Sorge auf die Situation in Gaza. Zehntausende Menschen sind im Rahmen der militärischen Reaktion Israels im Gazastreifen getötet worden. Die humanitäre Krise verschärft sich von Tag zu Tag. Das Leid der Zivilbevölkerung in Gaza muss beendet werden! Die Menschen benötigen Zugang zu humanitärer Hilfe, zu sauberem Trinkwasser, zu Lebensmitteln und zu medizinischer Versorgung. Unsere Solidarität gilt allen, die von dem anhaltenden Konflikt betroffen sind und unser Mitgefühl allen, die Familie und Freund:innen in den betroffenen Gebieten haben.
Antisemitismus und anti-muslimischem Rassismus gilt es entschieden entgegenzutreten.
Seit dem 7. Oktober ist es vermehrt zu Angriffen auf Jüd:innen sowie jüdische Einrichtungen auch in Deutschland gekommen. Antisemitische Vorfälle vor allem muslimisch gelesenen und zugewanderten Menschen zuzuschreiben, lenkt jedoch davon ab, dass Antisemitismus ein Problem in allen Bevölkerungsgruppen ist. Das befördert anti-muslimischen Rassismus.
Als intersektionale feministische Organisation stehen wir an der Seite aller, die von Ausgrenzung, Hetze und Gewalt betroffen sind. Für Solidarität und Menschenrechte!