Gewalterfahrung alter Frauen: „Wir bieten einen sicheren Ort“
2010 haben Sie Paula e.V. gegründet. Was waren Ihre Beweggründe?
Ich bin von Haus aus Altenpflegerin und habe durch Reaktionen von alten Frauen bei der Pflege viele Geschichten erfahren. Als Feministin hatte ich mich mit dem Thema Gewalt gegen Frauen auseinandergesetzt. Anfang der 1990er Jahre begann ich, die Erlebnisse und das Wissen auf meine Arbeit zu übertragen. Es war fast unmöglich, das Thema ins Team zu bringen oder die Pflegestrukturen entsprechend aufzubrechen. Deshalb habe ich mich selbstständig gemacht. Ich habe ein Buch geschrieben und begonnen, Vorträge zu halten. Leider verlor ich dadurch den direkten Kontakt zu den alten Frauen. Daher kam die Idee, eine Beratungsstelle zu gründen.
Wie können sich (unverarbeitete) Traumata im Alter auswirken?
Gewalterlebnisse sind Ohnmachtserlebnisse. Das kann im Alter wiederkommen, etwa wenn die Mobilität eingeschränkt ist oder wenn jemand aufgrund seines Alters diskriminiert wird. Hinzu kommt, dass Frauen jahrelang in Beruf und Familie funktionieren mussten. Im Alter haben sie Zeit und können sich mit ihren Erlebnissen auseinandersetzen. Öffentliche Diskussionen können ebenfalls dazu führen, dass das Thema Gewalt wieder an die Oberfläche kommt. Viele Frauen können die negativen Gefühle, die Panikattacken und Albträume nicht einordnen. Deshalb ist es so wichtig, über das Thema zu sprechen, aufzuklären und Unterstützungsmöglichkeiten aufzuzeigen.
Wie unterstützt Paula e.V. Frauen, die sich durch Gewalterfahrungen und Traumata belastet fühlen?
Wir machen Fortbildungen und halten Vorträge für alle, die mit alten Frauen zu tun haben: Menschen, die im medizinische, pflegerischen, therapeutischen Bereich tätig sind, Familienangehörige und Freund:innen. Und natürlich unterstützen wir die Frauen selbst. Dazu bieten wir in der Beratungsstelle und auch telefonisch einen sicheren Ort. Um die Tür zu diesem Ort weit offen zu halten, machen wir viel Öffentlichkeitsarbeit und führen in unserem Flyer und auf der Website möglichst viele Themen auf, mit denen Frauen sich an uns wenden können. Denn oft stellt sich erst im Lauf eines Gesprächs heraus, dass eine Frau zum Beispiel sexualisierte Gewalt erlebt hat. In der Beratung geht es dann darum, Selbstwirksamkeit zu fördern, Sicherheit und Vertrauen zu schaffen. Viele müssen erst verstehen, dass sie nicht ‚verrückt‘ sind, wenn sie mit verschiedenen Verhaltensweisen reagieren, dass ihre Ängste etwas mit dem Geschehenen zu tun haben. Manche denken, sie seien dement, obwohl ihre Vergesslichkeit Folge des Traumas sein kann. Ganz wichtig ist es, auf Augenhöhe, erwachsenengerecht mit den Frauen zu sprechen.
Trigger-Erlebnis können traumatische Ereignisse wieder aufleben lassen. Welche Trigger gibt es im Alltag alter Frauen?
In der Pflege kann das zum Beispiel beim Essenanreichen passieren. Da wird ein Löffel von jemand anderem in eine Körperöffnung geschoben. Triggern können auch Geräusche und Gerüche. Ein Pfiff, ein blöder Blick. Oder Symbole wie ein Kreuz an der Wand. Und natürlich Sprache. Sätze wie „Das müssen Sie jetzt machen“. Und Nachrichten über Kriege. Deshalb ist es so wichtig zu verstehen, wie die Frauen sozialisiert sind. Damit Dinge, die triggern könnten, möglichst vermieden werden.
Was bedeutet die intensive Berichterstattung über den Krieg in der Ukraine für Frauen, die selbst einen Krieg erlebt haben?
Bei vielen Frauen, die den zweiten Weltkrieg erlebt haben, kommen durch die Berichterstattung Erinnerungen an russische Soldaten und Kriegsgewalt hoch. Das zeigt sich zum Beispiel an den Anfragen, die wir mittlerweile von Pflegeeinrichtungen erhalten. Sie berichten von Bewohnerinnen, die unter dem Bett Schutz suchen oder ihre Koffer packen, um in den Keller zu gehen. Das Problem ist leider, dass unsere Beratungsangebote für Teams in der Pflege bisher kaum genutzt wurden. Dafür sei keine Zeit, hieß es immer. Das ist schon sehr bitter.
Am 4. September erhielten Sie für Ihr Engagement den Ehrenamtspreis der Stadt Köln. Welche Bedeutung hat diese Auszeichnung für Sie persönlich?
Ich habe mich sehr gefreut und geehrt gefühlt. Allerdings habe ich auf der Preisverleihung auch darauf hingewiesen, wie wichtig es wäre, dass unsere Arbeit ausreichend finanziell unterstützt würde. Wir versuchen, über Projekte Stellen zu finanzieren, aber das Gros machen ich und meine Kollegin Denise Klein nach wie vor allein und ehrenamtlich. Dabei ist der Bedarf enorm. Am meisten berührt hat mich eigentlich, dass dieses Thema – dass alte Frauen auch Gewalt erlebt haben und erleben und dass sie Unterstützung brauchen – durch die Preisverleihung öffentliche Aufmerksamkeit erfahren hat.
Ist es schwer, das Thema in die Öffentlichkeit zu bringen?
Ja. Obwohl Gewalt gegen Frauen mittlerweile ein öffentliches Thema ist. Nur werden Frauen im Alter, ältere Frauen, hochaltrige Frauen in der Regel nicht mitgedacht. Das liegt am Bild, das wir als Gesellschaft von alten Menschen, insbesondere alten Frauen haben, daran dass es die eigenen Mütter und Großmütter sind. Da will man dann nicht genau hinschauen, weil man nicht weiß, wie man damit umgehen soll. Auch politisch ist es kein Thema. Wir wünschen uns sehr, dass die Gesellschaft und die Politik es als ihre Aufgabe betrachten, alten Frauen die Unterstützung zukommen zu lassen, die sie brauchen. Aber das ist ein dickes, dickes Brett, an dem wir seit langem bohren.