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24. März 2023 - Interview

Ajna Jusić von „Forgotten Children of War“, Bosnien: „Wir verändern das Land in eine gute Richtung“

Ajna Jusić ist das Kind einer Vergewaltigung. Ihre Mutter erlebte vor 30 Jahren im Bosnienkrieg sexualisierte Kriegsgewalt. Ajna Jusić wurde in Zenica geboren – in dem Schutzhaus, das Monika Hauser zusammen mit lokalen Aktivist:innen aufgebaut hatte. Ein Gespräch über Identität, Verbindungen und Veränderungen in Bosnien und Herzegowina.

Ajna, dein Leben ist eng mit medica mondiale verbunden. Es gibt ein Foto, auf dem zu sehen ist, wie Monika Hauser, die Gründerin von medica mondiale, dich als Baby im Arm hält. Wie würdest du deine Beziehung zu medica mondiale beschreiben?

Diese Verbindung ist sehr wichtig. medica mondiale hat meine Mutter unterstützt, nachdem sie in einem Safe House überlebt hat. Als ich erfahren habe, dass meine Mutter im Bosnienkrieg vergewaltigt wurde und ich alle Fäden verbunden habe, ergab es für mich Sinn: starke Mutter, starke Tochter. Die Hilfe, die meine Mutter erlebt hat, definiert mein Leben heute und in Zukunft. Ich bin bei Medica Zenica geboren und ich kenne von damals Menschen, die wie Geschwister für mich sind. Diese Verbindungen sind sehr stark. Aber um ehrlich zu sein: Das Wichtigste, das ich von medica mondiale bekommen habe, ist die Beziehung zu meiner Mutter. Dafür gibt es keinen Preis.

An was erinnerst du dich besonders?

Meine intensivste Erinnerung ist aus dem Jahr 2018. Damals haben Monika Hauser und ich uns nach 25 Jahren wiedergesehen. Ich habe sie in Sarajevo wiedergetroffen und es war der Startpunkt unserer Zusammenarbeit. Monika ist eine Person, von der ich respektiert werden möchte. Ich habe viel von ihr gelernt und möchte ihrem Weg folgen.

Du hast als Teenager:in erfahren, dass du ein Kind bist, das aus einer Vergewaltigung entstanden ist. Was hat sich danach für dich geändert?

Alles. Wirklich alles. Meine Beziehung zu meiner Familie, zu meiner Mutter, zur Gesellschaft, zu meinen Freund:innen, zu Institutionen. Als Kind wusste ich nichts über den Hintergrund von medica mondiale und Medica Zenica. Für mich war es ein sicherer Ort, weil Krieg war. Dass ich erfahren habe, ein Kind aus einer Vergewaltigung zu sein, hat mich erwachsen werden lassen; mich stärker werden lassen.

Was hat es für dich bedeutet, als du erfahren hast, wer dein Vater ist?

Ursprünglich wollte ich nur herausfinden, wie mein Vater heißt – immer wurde ich danach gefragt, zum Beispiel bei Behörden oder in der Schule. Als ich dann herausgefunden habe, wer mein Vater ist, konnte ich dieses Wissen immer noch nirgends angeben. Das ist also die einzige Sache, die sich nicht geändert hat. Dabei war es das Einzige, was ich wollte: diesen Namen nennen.

Wie wichtig ist dir der Kontakt zu anderen Kindern, die aus Vergewaltigungen geboren wurden?

Sehr, sehr wichtig. Es ist wichtig, dass wir jemand haben, dem wir uns anvertrauen können, der uns versteht. Oft können noch nicht einmal Psycholog:innen damit umgehen. Es gibt Sachen, die uns unsere Mütter nicht erzählen, aber wenigstens können wir Kinder untereinander über unsere Gefühle sprechen. Wir sind Freund:innen, eine Familie. Durch uns treffen sich auch unsere Eltern, Onkel, Tanten – das ist auch für den Friedensprozess in Bosnien und Herzegowina wichtig. Als Gruppe haben wir zudem die Stärke gefunden, der Gesellschaft von unseren Müttern zu berichten – wir verändern dieses Land in eine gute Richtung. Davon bin ich überzeugt.

Du bist Vorsitzende der Organisation „Forgotten Children of War“. Was sagt deine Mutter zu deinem Engagement?

Als ich ihr von meinem Plan erzählte, war sie sehr respektvoll. Ich war Anfang 20 und sie hat mein Recht respektiert, die Stille zu brechen. Mein Stiefvater ebenso. Als ich das erste Mal öffentlich über meine Geschichte sprach, war sie dann aber doch ängstlich. Sie wollte nicht, dass die Gesellschaft oder Behörden mich verurteilen. Sie hat sich auch Sorgen gemacht, weil die Täter:innen immer noch frei sind. Ich kenne ihre Gesichter nicht – sie aber schon. Mittlerweile hat sie mein Engagement akzeptiert. Sie balanciert Akzeptanz und Angst aus.

Du arbeitest mit einem kleinen Team Festangestellter und vielen ehrenamtlichen Unterstützer:innen für „Forgotten Children of War“. Ihr organisiert Veranstaltungen für Jugendliche, arbeitet künstlerisch, in der Politik und habt euch zum Ziel gesetzt, den Kindern, die aus Vergewaltigungen geboren sind, mehr Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit zu schenken. So wollt ihr Diskriminierung und Stigmatisierung überwinden. Was ist eure größte Errungenschaft bislang?

Definitiv die rechtliche Anerkennung von Kindern aus Kriegsvergewaltigungen im Jahr 2022. Das hat uns Sichtbarkeit verschafft. Weltweit ist das einzigartig und verändert vieles. Ich bin sehr stolz darauf, dass wir daran beteiligt waren. Dabei geht es nicht nur um die Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit. Es geht darum, dass Institutionen verstehen und akzeptieren, dass wir wichtige Gesprächspartner:innen sind, wenn es um unsere Rechte geht. Wir sind Teil des Prozesses und das ist wichtig.

Was gibt dir die Stärke, jeden Tag deine Arbeit zu machen?

Wir haben gelernt, dass der Staat nicht von allein genug tut. Wir müssen soziale Gerechtigkeit einfordern – und das können wir zusammen schaffen. Das motiviert mich, genauso wie die Reaktion der Menschen auf unser Engagement. Wir sind kein Ziel von Hassrede – wir sind Teil der Gesellschaft, wir haben unseren Platz gefunden. Das macht mich stolz.