Gastbeitrag von Rolf Pohl: Sexismus in männlich dominierten Gesellschaften
Flirten oder Sexismus?
Diese Debatten kranken an mehreren Dingen und bleiben daher meist ohne größere nachhaltige Wirkungen. Auffällig ist an ihnen zunächst einmal das weitgehende Fehlen einer klaren Definition von „Sexismus“ und seiner Abgrenzung vom sogenannten „Flirten“ in die eine und von manifesten sexuellen Übergriffen in die andere Richtung: Ein Frauen gleichzeitig begehrender und verachtender Sexismus hat nichts mit Flirten, mit erotischem Spiel auf Augenhöhe und im wechselseitigen Respekt zu tun. Hier liegt die entscheidende Grenze, die in den aktuellen Debatten gerne übersehen und für eine angebliche, immer wieder den Frauen und dem Feminismus angelasteten Verunsicherung der Männer verantwortlich gemacht wird.
Alltagssexismus: Frauen als Beute
Zwischen Sexismus und Flirten gibt es keinen fließenden Übergang, wohl aber zwischen Alltagssexismus und [...] sexualisierter Gewalt. [...] Sexismus ist vor allem die Sammelbezeichnung für alle Variationen sexueller Aggressivität gegenüber Mädchen und Frauen, die in Gesellschaften mit männlicher Vorherrschaft (Hegemonie) nach wie vor als Objekt und Beute des männlichen Zugriffs gelten, dargestellt und wahrgenommen werden. Die Abstufungen in den Erscheinungsformen des Sexismus reichen vom anzüglichen Spruch, der sexuellen Anmache, dem Belästigen, dem Begrapschen bis hin zum zerstörerischen Übergriff durch Vergewaltigung. Damit wird ein Festhalten an dem verbreiteten und beschwichtigenden Irrglauben hinfällig, Sexismus sei vielleicht nicht schön, aber harmlos und habe mit sexueller Gewaltförmigkeit absolut nichts zu tun. [...]
Das Männliche als Norm: das „überlegene Geschlecht“
Das „Männliche gilt als Norm und gegenüber dem Weiblichen als überlegen“, das Weibliche dagegen weiterhin als untergeordnet, nachranging und weniger wert. Dieses System der männlichen Vorherrschaft ist tief in der kulturellen (symbolischen) Ordnung der Gesellschaft und in den weitgehend unbewussten Wahrnehmungs- und Einstellungsmustern der Einzelnen (nicht nur der Männer) verankert. In männlich dominierten Gesellschaften unterliegen Männer nach wie vor dem mehr oder weniger starken Druck, Unterschiede gegenüber den Frauen zu betonen, diese Differenzwahrnehmungen zu bewerten und sich damit nicht nur als ein anderes, sondern grundsätzlich als das „wichtigere“ und überlegene Geschlecht zu „setzen“ und diese Selbstsetzung „im Notfall“ zu beweisen. [...] Im Zentrum des Selbstverständnisses einer auf hierarchischen Geschlechtergegensätzen aufgebauten Kultur steht das Bild einer intakten und autonomen, aber immer wieder bedrohten Männlichkeit.
Abhängigkeitsangst und Kontrollverlust
Diese Bedrohung zeigt sich insbesondere auf dem Feld der Sexualität, denn sein, der Norm der Heterosexualität unterliegendes und auf Frauen gerichtetes Begehren macht den Mann im hohen Maße abhängig: abhängig von seinem eigenen Begehren und mit dieser Fixierung gleichzeitig abhängig von den Frauen, auf die seine Sexualität programmiert bleibt. Der Mann ist unter diesen Bedingungen nirgends schwächer und (scheinbar) einer fremden Kontrolle unterworfen, als auf dem Feld der Sexualität. [...] Die Folge ist die Entwicklung einer im Krisenfall kampfbereiten Abwehrhaltung, deren unbewusster Kern eine ambivalente, aus Angst, Lust und Hass gekennzeichnete Einstellung zu allem Bedrohlichen ist, das als Schwäche, als nicht-männlich empfunden und mit Frau und Weiblichkeit assoziiert […] werden kann.
Sexualisierte Gewalt als Bestrafung von Frauen
Hier liegt psychologisch eine der wichtigsten Quellen für alle Formen des alltäglichen Sexismus [...]. Denn im Selbstverständnis des vermeintlich autonomen und überlegenen Geschlechts sind diejenigen, die Quelle von Begierde und Lust sind, gleichzeitig, gerade weil sie es sind, offenbar die größte Quelle von Unlust und Angst. Mit sexueller Gewalt wird somit unbewusst zweierlei erreicht: eine Befriedigung ohne Kontrollverlust und eine Bestrafung der Frauen für das Begehren, das sie (vermeintlich) im Mann auslösen. Bei allen Erscheinungsformen des Sexismus geht es also nicht nur um männliche Macht, sondern auch (und gerade) um eine vorherrschende sexuelle Lust, in die Feindseligkeit und Gewaltförmigkeit bereits grundlegend und strukturell eingelagert sind.
Sie finden den Beitrag in voller Länge in unserer Fachbroschüre (S. 12)
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