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25. Januar 2022 - Meldung

Politik scheitert, Zivilgesellschaft handelt – Flucht aus Afghanistan

Mehr als 20 Jahre lang haben wir mit Frauenrechtsaktivist:innen in Afghanistan zusammengearbeitet. Maryam* ist eine dieser Aktivist:innen. Nach der Machtübernahme durch die Taliban wurde sie, wie so viele unserer afghanischen Kolleg:innen, von der Bundesregierung im Stich gelassen. Nach Monaten des Bangens ist sie unter Mithilfe von medica mondiale mit ihrer Familie im Dezember 2021 endlich nach Deutschland gelangt.

Frau aus Afghanistan mit Plastikbeuteln in der Hand läuft durch ein Geflüchtetenlager

Maryam blickt ins Dezembergrau, auf eine Tankstelle und einen Supermarkt. Müde Augen. Nach vielen zermürbenden Wochen der Flucht ist die 42-Jährige mit Mann und 2 Töchtern im Taunus gelandet. Noch vor einem halben Jahr hat sie als Anwältin eine 12-Jährige verteidigt, die wegen sogenannter "moralischer Verbrechen" im Gefängnis saß: Sie war vor der Zwangsverheiratung mit einem 60-Jährigen davongelaufen. Maryam erwirkt, dass es einen Prozess gibt. Dem Richter erklärt sie dabei die afghanische Gesetzgebung: Laut dem Gewaltschutzgesetz von 2008 ist die Verheiratung Minderjähriger verboten.

Jahrelang schulte Maryam Justizpersonal. Sie wollte nicht nur Gesetze verbessern, sondern auch das Bewusstsein der Menschen ändern. Als feministische Anwältin hat sie es immer wieder geschafft, mithilfe des Gewaltschutzgesetzes, an dessen Formulierung sie mitgewirkt hatte, Frauen und Mädchen aus den Gefängnissen freizubekommen. Viele Täter wurden rechtskräftig verurteilt. Zwar war ihr klar, dass die Gelder der internationalen Geber vor allem eigenen neoliberalen Interessen dienten, aber so konnte sie dafür sorgen, dass Frauenrechte auch in ihrem Land endlich umgesetzt werden. Dabei lebte sie mit täglichen Anfeindungen und realen Bedrohungen, wechselte Arbeitsweg und Handynummer regelmäßig. Sie lernte, mit diesen Widerständen umzugehen - ihr unbedingter Wille war es, eine Gesellschaft mitaufzubauen, in der Menschenrechte respektiert werden und Frauen vor Gewalt geschützt sind. Sehr klug nutzte sie dafür die neuen Gesetze - oder auch den Koran.

Der 15. August ändert alles

Der 15. August verändert alles, und Frauen wie sie werden zu den größten Staatsfeinden. Es folgen Monate in unterschiedlichen Verstecken und Unterkünften, Drohanrufe der Taliban, immer näher rückende Hausdurchsuchungen, Sperrung ihres Bankkontos. Vor die Türe nur noch vollverschleiert und in Begleitung des Ehemanns. Wohnen auf engstem Raum.

Tausende Kilometer entfernt, in Deutschland, tun Kolleginnen von medica mondiale in einem extra ins Leben gerufenen Krisenstab Tag und Nacht alles, um die Evakuierung von Maryam und Dutzenden weiterer Aktivist:innen zu ermöglichen. Telefonate mit den deutschen Behörden, logistische Unterstützung, Vernetzung mit anderen evakuierenden Organisationen, die kurzfristige Organisation von Hilfs- und Auffangmaßnahmen.

Der erste Fluchtversuch

Vergeblich. Der erste Fluchtversuch, die Evakuierung über den Flughafen Ende August, an den Toren gescheitert: Stundenlanges Warten im Mini-Bus, aufgeheizte Stimmung draußen, Schüsse. Die Listen, die dort ausliegen sollen, mit ihrem Namen, dem "Ticket" nach Deutschland, liegen nicht vor. Die Tore bleiben zu. Knapp entkommen: Später explodiert eine Bombe des sogenannten Islamischen Staats vor dem Flughafengebäude.

Dann neue Fluchtwege und monatelanger Transit, ein Labyrinth aus immer neuen bürokratischen Hindernissen: Banges Warten auf die schriftliche Aufnahmezusage der Bundesregierung. Konsularische Vertretung Deutschlands nur in den Nachbarländern; ohne Pass und Visa keine Ausreise dorthin. Das heißt: Visa für alle besorgen, kaum sind sie da, ist der Pass der Tochter nicht mehr gültig. IS Anschlag auf das Passbüro: wochenlang geschlossen. Evakuierungslisten, auf denen Maryam und ihre Familie stehen und wieder runtergenommen werden. Ein Versuch, über den Landweg nach Pakistan einzureisen, scheitert: zu viele Menschen, wieder kein Durchkommen.

Politik scheitert, Zivilgesellschaft handelt

medica mondiale begleitet Maryam auf ihrem Weg. Auch dank der großen Unterstützung unserer Spender:innen können wir sichere Kommunikation und Unterkünfte für Maryam und weitere Aktivist:innen bereitstellen, Sicherheitsexpert:innen engagieren, die sichere Fluchtrouten prüfen. Politische Absprachen zwischen Pakistan und Deutschland ändern sich fast wöchentlich; wir müssen die Abläufe permanent anpassen. Schließlich, wo Politik scheitert, ist es die Zivilgesellschaft, die handelt: gemeinsam mit den Aktivist:innen von Kabul Luftbrücke und ihrem Netzwerk, großer Schwarmintelligenz, tage- und nächtelangen Aktionen, wird die Flucht nach Pakistan ermöglicht.

Angekommen in Deutschland, nach der Gemeinschaftsunterkunft nun in einer kleinen Wohnung. "Zum ersten Mal spielen die Mädchen wieder, stundenlang", erzählt sie uns beim Tee. Der Freude über die gelungene Flucht folgt tiefe Trauer: über den Kampf für eine gerechtere Gesellschaft, der jäh beendet wurde, über Familienmitglieder und Freundinnen, die zurückgeblieben sind, ein Land, in dem Willkür herrscht und Hungersnot, Frauen und Mädchen, die nicht fliehen können, ein Leben als respektierte Anwältin, das zu Ende ist, eine Heimat, die sie vielleicht nie wieder sehen wird.

Und gleichzeitig bleibt sie Aktivistin, arbeitet nun gemeinsam mit uns dafür, weitere Kolleg:innen bei der Flucht zu unterstützen, bleibt in Kontakt, ermutigt, tröstet, koordiniert.

Ein besonderes Weihnachtsgeschenk

Und so bekamen wir alle am 24.12. mittags noch ein besonderes Weihnachtsgeschenk: die beiden jungen Kolleginnen Hamida* und Masiha* passieren mit ihren 2- und 3- jährigen Kleinkindern und Ehemännern bei Torkham die Grenze nach Pakistan und werden dort von Kabul Luftbrücke in Empfang genommen.

Zurück bleiben das Chaos, der Hungerwinter, die erneute Rechtlosigkeit der Frauen und Mädchen und die völlig ungewisse Zukunft ihrer Heimat. Und die vielen Menschen, die vor Ort weiterhin um ihr Leben bangen und auf eine sichere Ausreise hoffen. Wir sind froh, es geschafft zu haben, Maryam, Hamida, Masiha und viele andere darin zu unterstützen, in Sicherheit zu kommen.

Doch auch die verbliebenen Aktivist:innen in Afghanistan lassen wir nicht im Stich. Wir sind im engen Austausch mit Kolleg:innen und internationalen Aktivist:innen und planen gemeinsam, wie Frauenrechtsarbeit in und für Afghanistan künftig aussehen kann. Daneben unterstützen wir kleinere Projekte vor Ort, etwa ein Safe House für Frauenrechtsverteidigerinnen, in dem gefährdete Frauen unterkommen können. Denn im Gegensatz zu der Politik sind wir nicht bereit, 20 Jahre Einsatz für Frauenrechte in Afghanistan einfach aufzugeben - genauso wenig wie Maryam und ihre Kolleg:innen.

 

* Namen geändert

 

Der Bericht ist von Sybille Fezer, Leiterin des Afghanistan-Krisenstabs, und Monika Hauser, Vorstandsvorsitzende von medica mondiale, verfasst. Er erschien in anderer Form bereits in der taz im Rahmen der "Schlagloch" Kolumne der Journalistin und medica mondiale-Fachbeirätin Jagoda Marinić.

 

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