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09. August 2022 - Meldung

Geflohen aus Afghanistan: „Seit einem Monat hat meine Tochter keine Alpträume mehr“

Die Machtübernahme der Taliban im letzten Sommer ließ für viele Menschen ihre Heimat unbewohnbar werden. Die neuen Machthaber verfolgen insbesondere Ortskräfte wegen ihrer internationalen Kontakte sowie Menschenrechtsaktivist:innen. medica mondiale setzt seither alle verfügbaren Kräfte dafür ein, Mitarbeiter:innen der afghanischen Partnerorganisation und ihre Familien nach Deutschland und andere Länder zu evakuieren. Das Welcome-Team von medica mondiale erleichtert ihnen das Ankommen durch Beratung, Sachspenden und Sprachkurse.

101 Aktivist:innen und ihre Kernfamilien konnten inzwischen unter anderem nach Deutschland in Sicherheit gebracht werden. Für einige gesetzlich komplizierte Aufnahmefälle setzen wir weiterhin alle Hebel der politischen Advocacy-Arbeit in Bewegung. Das eigens installierte Welcome-Team von medica mondiale setzt sich aus einigen wenigen Angestellten und vielen ehrenamtlich engagierten Frauen zusammen. Noch vor den ersten Evakuierungen war klar, dass das Ankommen für die Flüchtenden erleichtert werden muss. Die zuständige Referentin für Flucht und Asyl, Hanife Kurt, erläutert die Bedürfnisse und Herausforderungen:

„Eine erste psychosoziale Beratung ist besonders wichtig für die Stabilisierung nach der erfahrenen Bedrohung und Flucht. Die meisten Afghan:innen mussten geliebte Menschen zurücklassen. Dazu kommen ganz praktische Dinge wie fehlende Kleidung, eine Unterkunft zu organisieren und bürokratische Hürden zu überwinden.“

Referentin für Flucht und Asyl, Hanife Kurt

Praktisches und Heilsames: Sprachkurse, Selfcare und Beratung

medica mondiale setzte zentrale Ansprechpartnerinnen ein, um Bedarfe und Informationsströme zu kanalisieren. Selfcare-Workshops halfen den enorm geforderten Ansprechpartnerinnen dabei, die massive Konfrontation mit Themen wie Gewalt und Flucht zu bewältigen und gestärkt als Beraterin zur Seite stehen zu können. medica mondiale ermöglichte außerdem eine ehrenamtliche Medizinsprechstunde, beispielsweise zum Thema Coronaimpfung, sowie eine Online-Rechtsberatung. Mitarbeiterinnen von medica mondiale spendeten Kleidung, Spielsachen und dringend notwendige Kleinmöbel.

Zur sprachlichen Vorbereitung auf die Integrationskurse des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) konnte mit Tatara Shirl eine studierte Lehrkraft und Deutsch-Afghanin gewonnen werden. Bis Mitte Juli hat sie Online-Deutschsprachkurse für die Aktivist:innen und ihre Familien angeboten. Die verschiedenen Familien sind in Hessen und Nordrhein-Westfalen verstreut, so dass der Sprachkurs ein willkommener Ort der Begegnung war. Darüber hinaus wird in einer Kooperation mit der University of Applied Sciences Frankfurt die weitere Qualifizierung der Aktivist:innen gefördert.

Sehnsucht nach Normalität im Ausnahmezustand

Der Teamgeist und die gegenseitige Unterstützung unter den Afghan:innen ist groß. Es wurden Online-Cafés eingerichtet. Wo die Entfernung es erlaubte, bildeten sich selbst angeleitete Gruppen für sportliche Betätigungen wie Fußball oder Fitnessprogramme. medica mondiale stellte allen das 9€-Ticket zur Verfügung, um diese wichtigen Kraftquellen zu ermöglichen:

„Heute habe ich das Gefühl, dass ich langsam in mein normales Leben zurückkehre. Meine Töchter lernen neue Fähigkeiten wie eine neue Sprache, Schwimmen und Gitarre. Mein Mann und ich besuchen beide denselben Integrationskurs. Das ist eine schöne Erfahrung für uns. Seit etwa einem Monat hat meine ältere Tochter keine Alpträume mehr und das ist großartig.“

Umida*, ehemalige Mitarbeiterin der afghanischen Partnerorganisation

Gedanken an Afghanistan: Schmerz und Hoffnung

Geschichten von Aktivist:innen, die von Talibankämpfern aus ihren Häusern gezerrt wurden und seither vermisst werden, machen unter den Geflohenen die Runde. Medienberichte über den zunehmenden Ausschluss von Frauen aus dem öffentlichen Leben in Afghanistan erschüttern die Frauenrechtsaktivist:innen. Doch die neuen Machthaber können die Hoffnung nicht auslöschen. Zu stark ist die Liebe zur eigenen Heimat und der Glaube an eine bessere Zukunft:

„Es ist eine Tatsache, dass ich jeden Abend vor dem Schlafengehen die Erinnerungen und Schmerzen an Afghanistan durchlebe, aber ich beginne trotzdem jeden Morgen mit Hoffnung für die Zukunft.“

Umida*, ehemalige Mitarbeiterin der afghanischen Partnerorganisation

*Name zum Schutz von der Redaktion geändert.