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26. Januar 2022 - Interview

Afghanische Frauenrechtsaktivistin Soraya Sobhrang: „Unser Ziel ist ein Netzwerk von Frauen für Frauen"

Soraya Sobhrang ist afghanische Gynäkologin, Frauenrechtsaktivistin und Direktorin unserer Partnerorganisation in Afghanistan. Unsere Partnerinnen und wir haben 20 Jahre lang zusammengearbeitet, seit dem ersten Fall der radikal-fundamentalistischen Taliban 2001. Nach der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 floh Soraya mit ihrer Familie. Inzwischen ist sie sicher in Deutschland angekommen. Hier erzählt sie von den Erfolgen der afghanischen Frauenrechtsbewegung, ihrer Sicht auf die Taliban und ihren Hoffnungen und Plänen für die Zukunft.

Soraya Sobhrang, afghanische Frauenrechtsaktivistin sitzt im Vordergrund, hinter ihr ein Teich CR Rendel Freude

Soraya, wie hat sich die Situation afghanischer Frauen und Mädchen seit dem Beginn des internationalen Einsatzes 2001 verändert?

Wir haben seit dem ersten Fall der Taliban vor mehr als 20 Jahren viel erreicht - auf rechtlicher, politischer und gesellschaftlicher Ebene. Die rechtliche Gleichstellung von Frauen ist Teil der afghanischen Verfassung geworden. Wir konnten Grundrechte für Frauen durchsetzen, darunter das Recht auf Bildung, auf Bewegungsfreiheit, auf freie Wahl des Ehepartners, auf körperliche Unversehrtheit und Schutz vor Gewalt. Frauen haben als Anwältinnen gearbeitet, als Richterinnen und Ärztinnen. Wir haben ein Frauenministerium und eine unabhängige Kommission für Menschenrechte etabliert, und es gab eine zivilgesellschaftliche Bewegung – besonders unter jungen Leuten – für mehr Demokratie und Menschenrechte.

 

Wie hast du die erneute Machtübernahme der Taliban im August 2021 erlebt?

Als Herat fiel, wussten wir, dass die Taliban auch nach Kabul kommen würden. Die Tage vor ihrer Ankunft in Kabul waren geprägt von Angst und Chaos. Wir haben unser Büro in Kabul geschlossen und mit den ersten Evakuierungsmaßnahmen begonnen. Als die Taliban Kabul schließlich erreichten, herrschten Panik und Verzweiflung. Die Menschen sind durch die Straßen gerannt, ganz kopflos vor Angst. Es schien, als wollten sie fliehen und wüssten nicht, wohin.

In dieser Zeit war für uns Aktivist:innen entscheidend, dass wir uns gegenseitig unterstützt haben. Auch wir mussten vor den Taliban fliehen, unser Zuhause und unser bisheriges Leben zurücklassen, von einem sicheren Versteck zum nächsten hetzen. Wir haben über geschützte Kanäle viele Nachrichten ausgetauscht, haben versucht, einander Mut zu machen, und gegenseitig zu unterstützen. Viele internationale Aktivist:innen haben uns in dieser schwierigen Zeit gestärkt, uns ermutigende Nachrichten zukommen lassen, darunter auch unsere Kolleg:innen von medica mondiale. Ich habe täglich mit Monika und Sybille gesprochen (Vorsitzende von medica mondiale, Anmerkung d.R.), und medica mondiale hat alle Mitarbeiter:innen bei der Ausreise unterstützt. Das hat uns sehr geholfen.

Was bedeutet die Rückkehr der Taliban für die afghanische Bevölkerung, insbesondere Frauen und Mädchen?

Die Bevölkerung leidet. Die Taliban können erobern, aber sie wissen nicht, wie man regiert. Sie behaupten gerne öffentlich, dass sie sich verändert, dass sie sich weiterentwickelt hätten. Dass sie moderner und offener geworden seien. Doch das ist alles nur Fassade. Sie haben nach ihrer Machtergreifung sofort und systematisch Frauenrechte eingeschränkt, das Ministerium für Frauenrechte abgeschafft, die meisten Frauenhäuser, Frauenrechts- und Menschenrechtsorganisationen mussten schließen. Besonders junge Frauen und Mädchen leiden: Sie werden wieder von höherer Bildung ausgeschlossen, dürfen die Schule nur noch bis zur 10. Klasse besuchen. Vielen jungen Mädchen droht die Zwangsverheiratung, denn die Hungersnot, die in Afghanistan wütet, treibt die Menschen zur Verzweiflung - sie verkaufen ihre Töchter in der Hoffnung, so wenigstens den Rest ihrer Familie vor dem Hungertod bewahren zu können. Junge, gut ausgebildete Menschen versuchen, das Land zu verlassen.

Was gibt dir in dieser schwierigen Situation Hoffnung? Welche Pläne haben Aktivist:innen für die Zukunft?

Wir befinden uns momentan in einer Phase des Umbruchs. Unser größtes Anliegen ist es zurzeit, diejenigen unserer Kolleg:innen, die noch nicht das Land verlassen konnten, zu unterstützen, so gut wir können. Langfristig müssen wir optimistisch denken. Die Taliban haben viele der Errungenschaften, die wir in den letzten 20 Jahren erwirkt haben, wieder zunichte gemacht. Doch es gibt jetzt eine Generation in Afghanistan, die weiß, was Demokratie und Menschenrechte sind. Das gab es in den 1990er Jahren, als die Taliban zum ersten Mal die Macht ergriffen haben, nicht. Diese junge Generation ist unsere größte Hoffnung, denn die Taliban können ihnen ihr Wissen, ihre Kompetenz und ihre Träume nicht wegnehmen. Und das bedeutet, dass auch das Engagement für die Rechte von Frauen und Mädchen, für eine gerechtere Gesellschaft, nicht aufhören wird. Für uns Aktivist:innen bedeutet das, zu überlegen, wie wir dieses Engagement aufrechterhalten, unterstützen, stärken können. Wir wollen eine Brücke bilden zwischen den Aktivist:innen in vor Ort und außer Landes, um weiterhin für Frauen- und Menschenrechte in Afghanistan eintreten zu können. Ein Netzwerk von Frauen für Frauen - das ist ein Ziel für die Zukunft.

 

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