Aufbruch
Im Herbst 1992 herrscht bereits seit über einem Jahr Krieg im damaligen Jugoslawien, mitten in Europa. Seit Monaten berichten die deutschen Medien über sich ständig verschiebende Frontverläufe und Flüchtlingsströme, doch erst jetzt richten sie ihren Fokus auf die systematischen Massenvergewaltigungen von Frauen und Mädchen. Die Zeitschrift Emma schreibt im September: „Serbische Soldaten machen aus der Textilfabrik ein gigantisches Bordell, sie erniedrigen, benutzen und vergewaltigen die Frauen. Tag für Tag. Nacht für Nacht.” © Anna Mahendra/medica mondiale
'Es ist etwas in mir aufgebrochen – und ich bin aufgebrochen.' Copyright: medica mondiale
Seit Monaten verfolge ich die Berichterstattung über den Krieg. Wütend und schockiert über die beschriebene Gewalt, die unsensible Darstellung der Betroffenen in den Medien und die Untätigkeit der verantwortlichen PolitikerInnen, entschließe ich mich vor Ort zu helfen. Ich möchte die von Gewalt betroffenen Frauen und Mädchen unterstützen, ihnen mit Empathie begegnen und sie medizinisch versorgen. Ende November nehme ich Kontakt mit der Historikerin Gabriela Mischkowski auf, die einen Kommentar in der „taz“ veröffentlichte. Sie bietet mir an, sie nach Zagreb zu begleiten. Von einer Woche auf die andere fahre ich los. © Anna Mahendra/medica mondiale
"Nach einer Woche in Zagreb wird mir klar: Ich muss nach Bosnien rein."
Auf meiner ersten Reise in die kroatische Stadt Zagreb knüpfe ich Kontakte zu AktivistInnen und anderen Organisationen und spreche mit Überlebenden in einer Moschee, die als Flüchtlingsunterkunft dient. Ich fasse den Entschluss in der zentralbosnischen Stadt Zenica, 30 km von der Front entfernt, ein Frauen-Therapiezentrum aufzubauen. Mir begegnen viele kritischen Stimmen zu diesem Vorhaben. Zurück in Deutschland konkretisieren sich die Pläne. © Anna Mahendra/medica mondiale
"Wir sind beseelt von dem Gedanken, dass jetzt schnell was passieren muss."
Ende Dezember mache ich mich erneut auf den Weg und reise mit zwei Pastoren nach Zenica. Sie transportieren Hilfsgüter aus Deutschland nach Bosnien. Nach meiner Ankunft lerne ich die Deutschlehrerin Zilha Hadžihajdić und die Ärztin Zemira Hašić kennen. Beide sind gut vernetzt und unterstützen mich. Gemeinsam besuchen wir das Lokalfernsehen und den Bürgermeister und nehmen Kontakt zur örtlichen Frauenklinik auf. Wir machen uns auf die schwierige Suche nach einem Gebäude. Schließlich finden wir einen Kindergarten, den wir mieten und renovieren lassen.
„Es ist erstmal wichtig, die richtigen Frauen zu finden, mit denen ich so ein Projekt starten kann.“
Zemira nimmt mich in ihrer Wohnung auf und kündigt ihre Stelle, um beim Aufbau des Zentrums mitzuwirken und weitere lokale Fachfrauen zu finden. Die ersten Vorstellungsgespräche werden bei Kerzenlicht in ihrer Wohnung geführt. Das Anfangsteam erweitert sich schnell um drei Psychologinnen, zwei Anästhesistinnen, fünf Krankenschwestern, eine Erzieherin, eine Sekretärin und eine Hausleiterin. Im Lauf der Zeit vergrößert sich das Team auf über 20 Frauen, die allen drei bosnischen Ethnien angehören. © Anna Mahendra/medica mondiale
„Der Imam verkündet, dass Frauen keine Verantwortung für die Vergewaltigungen tragen.“
Kurz nach meiner Ankunft findet Mitte Januar in Zenica ein Symposium statt, an dem PolitikerInnen, TheologInnen und ÄrztInnen teilnehmen. Das wichtigste Ereignis ist eine öffentliche Erklärung der obersten islamischen Autorität, des Imams. Er verkündet in einer Fatwa, dass vergewaltigte Frauen keinerlei Verantwortung für das Verbrechen, das an ihnen begangen wurde, tragen und sich weder vor Gott noch vor den Menschen schuldig fühlen sollen. Zudem werden Schwangerschaftsabbrüche bis zum 120. Schwangerschaftstag erlaubt. © Anna Mahendra/medica mondiale
„Bei jedem Schlagloch dachte ich: Mein armes Anästhesiegerät.“
250 000 DM Spenden ermöglichen die Finanzierung der Erstausstattung des Zentrums. Innerhalb weniger Wochen sammeln UnterstützerInnen im Februar in Deutschland 25 Tonnen Material. Im LKW stapeln sich Nahrungsmittel, Medikamente und Hygieneartikel zwischen Teilen der Büroausstattung, gynäkologischem Stuhl, OP-Tisch und Anästhesiegerät. Als ich Mitte März in Zenica eintreffe, erwartet mich das gesamte Team vor dem Haus. Alle packen an, die einzelnen Räume werden eingerichtet. Nach wenigen Tagen entsteht in der ehemaligen Turnhalle eine überschaubare Apotheke. © Anna Mahendra/medica mondiale
„Seit Montag kommen die ersten Patientinnen – die Arbeit beginnt.“
Am 4. April 1993 wird Medica Zenica offiziell eröffnet. Zur Eröffnung kommen JournalistInnen, PolitikerInnen und GynäkologInnen. Innerhalb der ersten Woche werden sechs Frauen und sechs Kinder im Haus aufgenommen. Die Frauen stammen überwiegend aus Ost- und Nordbosnien. Sie wurden in Konzentrationslager verschleppt oder in Privathäusern gefangen gehalten und vergewaltigt. Manchen Überlebenden war die Flucht gelungen, andere waren erst nach Monaten freigelassen worden, als es zu spät für einen Schwangerschaftsabbruch war. Bald kommen weitere Patientinnen. Einige von ihnen sind ein Jahr, andere ein paar Tage zuvor vergewaltigt und verletzt worden, viele von ihnen mehrfach. © Anna Mahendra/medica mondiale
„Das erste Mal Granaten direkt in Zenica.“
Nur zwei Wochen nach der offiziellen Eröffnung des Zentrums wird Zenica beschossen. Keine dreihundert Meter vom Therapiezentrum entfernt schlagen sechs Granaten direkt auf dem Hauptplatz ein und richten ein Blutbad an. Die Stadt wird von der Außenwelt abgeschnitten, die Front rückt immer näher und Internationale sollen evakuiert werden – doch ich beschließe zu bleiben. © Anna Mahendra/medica mondiale
„Wir müssen zu den Frauen in den entlegenen Orten!“
In den letzten zwei Monaten gibt es oft weder Strom noch Wasser. Wir organisieren im Juni einen roten Jeep aus Köln mit Labormaterialien, Lebensmitteln, Medikamenten, Lampen und anderen Sachen, die hier nicht mehr erhältlich sind. Auch eine Satellitentelefonanlage befindet sich im Wagen. Sie wird unser Tor zur Außenwelt und ist eine der wenigen Telefonanlagen in ganz Zentralbosnien. Mit dem Jeep fahren wir nach Vitez über die bosnisch-kroatische Front hinweg. Unter lebensgefährlichen Bedingungen holen wir Frauen aus der Kriegszone und Flüchtlingsunterkünften in der Umgebung. © Anna Mahendra/medica mondiale
„Es wird immer bekannter, was Medica Zenica macht. Die Frauen kommen zu uns.“
Mitte Juli wird Medica 2 in Zenica eröffnet. In drei Häusern am Stadtrand sollen Frauen in einem betreuten Wohnprojekt leben, die sich in Medica 1 körperlich und seelisch einigermaßen erholt haben. In Visoko wird kurz darauf im August Medica 3 eröffnet. Die Kolleginnen kennen sehr viele Leute und wir bekommen immer mehr Zulauf. Neben der Einzel- und Gruppentherapie für die stationären Patientinnen bieten die Psychologinnen nun auch ambulante Beratung an. Der Krieg dauert an – die Versorgungslage verschlechtert sich durch die Blockade Zentralbosniens immer weiter. Medica Zenica teilt die wenigen Lebensmittel unter anderem mit dem Krankenhaus. © Anna Mahendra/medica mondiale
„Unsere mobile Ambulanz ist endlich im Einsatz.“
Viele Frauen aus der Umgebung haben trotz verschiedener Beschwerden seit zwei Jahren keine Ärztin gesehen. Wir entscheiden uns eine mobile Ambulanz einzurichten, die einem kleinen Behandlungsraum gleicht. Im Herbst 1994 wird ein umgebauter, gepanzerter Kastenwagen nach Zenica gebracht. Die von den Medica-Frauen „Marta“ genannte Ambulanz fährt nun regelmäßig in abgelegene Orte, in denen es keine gynäkologische Versorgung gibt. © Anna Mahendra/medica mondiale
Ausblick
In den folgenden Monaten entwickelt sich medica mondiale weiter und professionalisiert sich. Noch im gleichen Jahr werden Ausbildungsprogramme für Frauen in Bosnien initiiert. Sie ermöglichen ihnen, ein eigenes Einkommen zu verdienen und eine Zukunftsperspektive zu entwickeln. Im Oktober 1996 soll Monika Hauser das Bundesverdienstkreuz verliehen werden – wegen des Beschlusses der deutschen Innenministerkonferenz, bosnische Flüchtlinge abzuschieben, lehnt sie die Auszeichnung ab. Im darauffolgenden Jahr unterstützt medica mondiale die Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag durch Vermittlung von Informationen und Kontakten. 1999 weitet sich die Arbeit aus: die Unterstützung in Albanien und der Aufbau eines weiteren Frauenzentrums im Kosovo beginnen. © Anna Mahendra/medica mondiale