Für immer traumatisiert? Leben nach sexuellem Missbrauch in der Kindheit
Das Buch ist 2019 erschienen im Mabuse-Verlag und für 16,95 Euro erhältlich.
Leseprobe
Missbrauch in der Kindheit ist ein überwältigendes, traumatisches Erlebnis und strafrechtlich eine kriminelle Handlung. Betroffene kämpfen oft lange darum, dass überhaupt gesehen wird, dass sie Opfer einer Straftat sind. Um Anerkennung des ihnen zugefügten Unrechts zu erfahren und Unterstützung zu erhalten, müssen sie zudem meist beweisen, dass es ihnen tatsächlich schlecht geht. Und in dem Moment, wo sie sich öffnen und „zugeben“, dass sie ein Opfer sind oder waren, laufen sie Gefahr, dies für immer bleiben zu müssen. Selten wird dieses „Sich-Öffnen“ als wichtiger Schritt zur möglichen Bewältigung des Missbrauchs gesehen. Viel häufiger erfolgt eine Pathologisierung ihrer ganzen Person und ihres ganzen weiteren Lebens. Die Gesellschaft, und leider allzu oft auch die Betroffenen selbst, glauben, dass man ausschließlich Opfer ist, wenn man sexuelle Gewalt erlebt hat. Die Festlegung auf die Rolle der Schwachen, der Leidenden, der ewig Traumatisierten und des lebenslangen Opfers scheint für sie unvermeidlich. Viele Betroffene können und wollen sich mit dieser allgemeinen, öffentlichen Meinung nicht identifizieren. Im Gegenteil – viele entwickeln im Laufe der Zeit ein besonderes Maß an Stärke und wichtigen Überlebensstrategien und schaffen es, jenseits des Opferstigmas ein aus ihrer Sicht gelungenes Leben zu führen.
Empfehlenswert
Beate Kriechel ermöglicht acht Betroffenen von sexuellem Kindesmissbrauch, ihre Lebensgeschichte zu erzählen – und von ihrer Überlebenskunst. Denn sie schildern nicht nur die großen und langfristigen Belastungen. Die Geschichten erzählen vor allem auch davon, wie genau sieben Frauen und ein Mann es geschafft haben, sich vom Trauma zu befreien. Beate Kriechel ist ehemalige Mitarbeiterin von medica mondiale und selbst Betroffene.
medica mondiale, Juni 2019
Buchbesprechung von Karin Griese, Leitung Trauma-Arbeit bei medica mondiale:
"Die Zeit ist reif für dieses Buch. Die Autorin hat selbst als Kind sexuellen Missbrauch erlebt. Durch Erfahrungsberichte von Betroffenen zeigt sie eindrücklich, wie es trotz der belastenden Erlebnisse in der Kindheit möglich ist, sich das eigene Leben zurückzuerobern. [...]
Das vorliegende Buch ermöglicht einen Perspektivwechsel. Sieben Frauen und ein Mann erzählen ihre ganz eigenen, individuellen Geschichten mit unterschiedlicher Färbung, Tiefe und Emotionalität. Die Täter waren Väter, Onkel, Brüder, Lehrer und Freunde der Eltern oder Mütter. Die ProtagonistInnen schildern die belastenden Erlebnisse sowie die Auswirkungen auf ihr Leben und antworten auf zentrale Fragen: Welche Auswirkungen hatte das Reden oder Schweigen über das Erlebte für sie? Welchen Umgang mit der eigenen Betroffenheit hätten sie sich in der Familie oder im sozialen Umfeld gewünscht? Sie rücken gängige Zuschreibungen zurecht, mit denen sie konfrontiert sind, und zeigen eindrücklich, wie sie sich – meist schon ein Leben lang – mit den Gewalterfahrungen auseinandergesetzt und ihren Weg der Verarbeitung gefunden haben. Sie bestimmen selbst, wie sie über ihre Geschichte berichten, und gewinnen so ein Stück Kontrolle und Deutungshoheit über den Diskurs zum Thema Missbrauch zurück.
Was sich wie ein roter Faden durch die Erfahrungsberichte zieht, sind Aussagen, die verdeutlichen, wie wichtig es den Betroffenen war, den Mut zu fassen, sich anderen Menschen mitzuteilen: „(…) neben dem eigentlichen Missbrauch, war es für mich ebenso ein großes Trauma damit alleine zu sein.“ Oder: „Es war wie ein Befreiungsschlag, darüber zu sprechen.“Als Wendepunkt beschreiben sie oft den Beginn einer Therapie: „Endlich konnte ich einen Teil von mir zum Ausdruck bringen, den ich bis dahin weggeschlossen hatte.“ [...]
Alle Interviewten beschreiben, dass sie die Erfahrungen zwar sehr geprägt haben, aber dass sie sich dadurch nicht vollständig bestimmen lassen. Viele sind sogar mit einem Bewusstsein für die eigene Stärke daraus hervorgegangen. Sie schöpfen etwa „Kraft und Zuversicht daraus, Schwieriges überwunden zu haben“. Andere beschreiben, dass sie durch die Erfahrungen eine emotionale Tiefe entwickelt haben, die es ihnen ermöglicht, viel Empathie für andere zu empfinden und sich eng mit anderen Menschen verbinden zu können. [...]
Das Buch gibt eine vielstimmige Antwort auf die Frage „Für immer traumatisiert?“ und enthält die ermutigende Botschaft für Betroffene: Eine Bewältigung und Integration der schweren Erfahrungen ist möglich. Auch wenn der Weg oft lange und mühsam ist, ist es lohnenswert, sich der schmerzhaften Vergangenheit zu stellen.
Ich bin sicher, dass neben den Betroffenen selbst auch Familienangehörige, FreundInnen, PartnerInnen, TherapeutInnen und BeraterInnen von diesem Buch in hohem Maße profitieren können. Es sollte als Standardlektüre zu jeder Therapieausbildung dazu gehören, in allen Bibliotheken, Beratungsstellen und therapeutischen Praxen verfügbar sein. Die Autorin und jede einzelne ErzählerIn tragen mit dieser mutigen Publikation dazu bei, das Thema weiter zu enttabuisieren und besprechbar zu machen – und damit letztlich auch Ohnmacht und Unsicherheit im Umgang mit Betroffenen entgegenzuwirken."
Vollständige Rezension in Dr. med. Mabuse Nr. 243 (1/2020)
Über das Buch
„Das Buch versteht sich (zu Recht) nicht als Selbsthilfebuch oder Selbsthilferatgeber. Es soll vielmehr anderen Betroffenen Mut machen, sich mit der eigenen Geschichte und der Erfahrung sexueller Gewalt auseinanderzusetzen. Dieses Buch kann auch sehr gut in der Ausbildung oder dem Studium für Studierende der Sozialen Arbeit, Psychologie oder Pädagogik verwendet werden, weil sehr intensiv und verständlich das kindliche Erleben nachvollziehbar wird und wir dadurch weitere Gedanken für präventive Strategien schöpfen können. Auch für (erfahrene) BeraterInnen oder TherapeutInnen ist das Buch empfehlenswert, da es bei allen Lebensgeschichten verdeutlicht, was bei der späteren Weiterentwicklung im Erwachsenenalter hilfreich und förderlich sein kann.“
„Ungewöhnlich an dem Titel ist, dass sich hier acht von sexuellem Missbrauch Betroffene gegen das Muster der gängigen Zuschreibungenals „Opfer“, „Überlebende“, „für immer Traumatisierte“ aussprechen. Sie erzählen ihre Geschichten im Bewusstsein, dass die als Kind erlebten Übergriffe ihr weiteres Leben zwar prägten, doch nicht lebenslang bestimmten, sie nicht für immer beschädigten. (…) die Taten werden nur angedeutet, nicht – wie sonst häufig – breit geschildert. Der Fokus liegt auf dem, was auf die Übergriffe folgte, auf entwickelte Stärken, auf genutzte Möglichkeiten, die traumatischen Erfahrungen zu überwinden und für sich eine nicht von ihnen dominierte Identität zu bilden.“