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04. April 2014 - Meldung

Die Geschichte von der Palme

Vor langer, langer Zeit lebte eine junge Palme in der Wüste. Sie liebte das Leben und freute sich auf alles, was ihr begegnete. Sie freute sich bei jedem Sonnenaufgang, wenn die ersten Lichtstrahlen ihre Zweige berührten. Sie war glücklich, wenn Vögel sich in der Hitze des Tages in ihrem Schatten ausruhten, sie tanzte mit den Wüstenwinden, die durch ihre Blätter wehten und hörte mit dankbarem Herzen der Stille der Nacht zu. Sie dankte Gott für das Geschenk ihres Lebens.

Palmenwald in Fish Town, Liberia

Eines Tages kam ein Mann vorbei. Er war von der nahe gelegenen Stadt geflohen, wo Menschen ihn betrogen hatten. Nun lief er voller Ärger in der unbarmherzigen Hitze der Wüste umher, ganz ohne Wasser und ohne Nahrung. In seiner verzweifelten Wut grollte er der Jugend und des Glücks der Palme und schrie sie an:

„Hey, du, Palme, warum sollst Du eigentlich so glücklich sein, wenn es mir so schlecht geht? Wenn ich leiden muss, dann sollst Du auch leiden.“

Und während er dies sagte, hob er einen großen, schweren Stein auf und ließ ihn auf die Palme krachen.

Die Palme konnte erst kaum atmen, als sie den immer noch ärgerlichen Mann wegrennen sah. Für einen Augenblick war sie völlig still, spürte nur Taubheit und war völlig durcheinander und geschockt. Aber dann begann der Schmerz langsam ihr Herz zu erfüllen und breitete sich aus bis er den kleinsten Zweig am Ende des längsten Astes erreicht hatte. Es war ein überwältigender Schmerz. Die Palme fühlte, wie ihr Herz brach, und in ihrer Verzweiflung schrie sie laut auf, aber da war niemand, der sie hörte. Die Wüste schwieg, und die dunkle Nacht war die einzige Zeugin ihres Leids.

Für eine lange Zeit unternahm sie nichts, hoffte jede Minute, jede Stunde, jeden Tag, dass der Schmerz bald aufhören würde. Sie war traurig und ärgerlich zugleich: Ihr Leben, das so schön, so lebenswert und so voller Versprechen war, dieses Leben hatte sich in ein unerträgliches, schmerzvolles und ungerechtes Etwas verwandelt. Sie wollte nicht mehr weiter leiden, und nach einer kleinen Weile beschloss sie, ihrem Leid ein Ende zu setzen und den Stein zu entfernen. Sie nahm einen langen, tiefen Atemzug und versuchte ihn wegzudrücken, aber er bewegte sich nicht. Sie versuchte es wieder, nahm all ihre Kraft zusammen, aber sie konnte den Stein keinen Millimeter verrücken. Er blieb, wo er war, und sein Gewicht lag schwer auf ihr. Sie versuchte es wieder und wieder, und ihre Kraft verebbte langsam. Sie wurde immer müder und immer hoffnungloser. Und schließlich wurde ihr klar: Sie konnte den Stein nicht wegdrücken. Sie gab auf. Sie war einfach zu jung, zu schwach, und niemand wollte ihr helfen.

Dieses Gefühl von Hoffnungslosigkeit wuchs und für lange Zeit sah sie keinen Weg mehr, um gegen den Schmerz anzukämpfen. Sie wollte leben, ja, aber wenn Leben nur Schmerz war, wozu dann weitermachen? Wozu sollte sie morgens aufwachen, wenn doch nur Verzweiflung auf sie wartete. Sie hatte keine Freude mehr am Sonnenlicht, am Gesang der Vögel, an der Brise am Abend. Sie begann das Leben zu hassen und wollte sterben:

„Wenn Leben Schmerz ist“,

so schrie sie in der Stille der Wüste,

„dann möchte ich nicht mehr weiterleben“.

Überwältigt von diesen Gefühlen von Hoffnungslosigkeit schlief sie ein.

Als sie am nächsten Morgen aufwachte, spürte sie, dass sich etwas verändert hatte. Zuerst wusste sie nicht, was es war, aber dann fühlte sie, wie kühles, nährendes Wasser in ihren Wurzeln bis in ihren Stamm aufstieg und den Schmerz linderte. Sie versuchte zu verstehen, was passiert war, und dann erkannte sie, dass sie durch das Gewicht des Steins tiefer in die Erde gedrückt wurde und schließlich auf eine unterirdische Wasserquelle gestoßen war. Die Kraft aus dieser Quelle schenkte ihr neue Hoffnung, und sie fühlte, wie wieder Energie in ihre Äste kam. Obwohl sie immer noch den Stein so schwer fühlte wie zuvor, pulsierte in ihr nun eine Kraft zu wachsen. Nach einer so langen Zeit der Trauer, nach all der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, die sie erlebt hatte, waren dies wieder erste Momente von Freude, die sich in ihrem Herzen ausbreitete und es fast zerbersten ließ.

Das Wasser nährte die Palme und ermöglichte ihr zu wachsen. Sie wurde zu einem der größten Bäume in der Wüste, und doch trug sie immer noch das Gewicht des Steines, der manchmal mehr und manchmal weniger schmerzte. Sie lernte diesen Stein als Teil ihrer Selbst zu akzeptieren und umarmte ihn mit ihren Blättern, als ob sie diesen verletzlichsten und schmerzvollsten Teil ihrer Selbst beschützen wollte. Trotz des Steines lernte sie wieder Freude zu erfahren, wenn Vögel zu ihr kamen, um in ihrem Schatten zu ruhen, und Menschen suchten Schutz unter ihr bei Sandstürmen.

Sie war dankbar für das Geschenk ihres Lebens.

 

Quelle: Die hier gekürzt veröffentlichte „Geschichte von der Palme“ – in dieser Form von Simone Lindorfer konzipiert – erschien erstmals 2005 und fand seitdem Anwendung in vielen Workshops zum Thema „Kriegsgewalt an Frauen und Trauma“. Außerdem ist sie im „Training Manual for Women's Empowerment“ (Advanced level, S. 145 f.) von medica mondiale und medica mondiale Liberia aus dem Jahr 2013 zu finden.