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30. August 2021 - Meldung

Afghanistan: Bundesregierung lässt mutige afghanische Frauen im Stich – eine Chronologie

Pressestatement, Köln, 30.08.2021. Die Frauenrechtsorganisation medica mondiale setzt sich dafür ein, dass Mitarbeiter:innen ihrer afghanischen Partnerorganisation und deren Familienangehörige in Sicherheit gebracht und aus Kabul ausgeflogen werden. Am vergangenen Donnerstag jedoch wurden alle Hoffnungen auf eine Evakuierung im Rahmen des laufenden Militäreinsatzes zunichte gemacht. Eine Chronologie:

Frühjahr 2021: Die Frauenrechtsorganisation medica mondiale und ihre afghanische Partnerorganisation sind alarmiert. Die internationalen Truppen bereiten ihren bedingungslosen Abzug aus Afghanistan vor. Gleichzeitig rücken die Taliban in immer mehr Provinzen vor. Die Sicherheitsmaßnahmen in den drei Büros in Herat, Mazar-i-Sharif und Kabul werden ausgebaut. 20 Jahre lang haben die Organisationen zusammen Projekten in Afghanistan umgesetzt und Überlebende sexualisierter Gewalt unterstützt. Diese Arbeit ist jetzt in Gefahr. Die Aktivistinnen und weitere Mitarbeitende der Organisation sind in Sorge um ihr Leben.

Die Taliban haben weitere Teile des Landes eingenommen

Nur wenige Monate später: Die Taliban haben weitere Teile des Landes eingenommen. Am 12. und 13.08. gelingt es den Kolleg:innen aus Herat und Mazar-i-Sharif gerade noch, sich rechtzeitig nach Kabul in Sicherheit bringen, bevor die Taliban die Städte einnehmen. Zuvor vernichten die Aktivist:innen eine Woche lang alles, was ihnen oder den Frauen und Mädchen, die sie unterstützen, gefährlich werden könnte: Personalakten, Klientinnendateien, juristische Verteidigungsschriften, Aufzeichnungen der Überwachungskamera.

Seitdem arbeiten Mitarbeiter:innen beider Organisationen rund um die Uhr daran, dass die afghanischen Kolleg:innen und ihre Familien schnellstmöglich evakuiert werden können. Der Schutz der Kolleg:innen steht an erster Stelle. Dafür arbeiten wir eng mit erfahrenen internationalen Sicherheitsexperten zusammen, die ihr lokales und globales Netzwerk nutzen. Die Sicherheitsexperten beraten unsere Kolleg:innen und uns, wie und wo die Frauen und ihre Familien in Kabul möglichst sicher unterkommen können. Parallel prüfen sie Routen für einen sicheren Transport zum Flughafen.

Mitte August: Die Lage am Flughafen in Kabul spitzt sich immer weiter zu

Noch bevor der erste Flug der deutschen Luftbrücke am 16.08. startet, liegen dem Auswärtigen Amt Listen mit den Namen unserer Kolleg:innen und ihrer Familienangehörigen vor. Immer wieder wird uns versichert, dass unsere Kolleg:innen allen zuständigen Stellen bekannt seien. Es werde alles dafür getan, um sie zu evakuieren. Eine verbindliche Zusage oder konkrete Informationen über den Ablauf einer möglichen Evakuierung erhalten wir nicht. Es vergeht wertvolle Zeit.

Die Lage am Flughafen in Kabul spitzt sich immer weiter zu. Immer mehr Menschen machen sich aus Verzweiflung und letzter Hoffnung auf den Weg zu den Eingangstoren. Die Sicherheitslage verschlechtert sich stündlich. Andere afghanische Frauenrechtsaktivist:innen, die auf Evakuierungslisten stehen, berichten uns, wie sie mit ihren Familien versucht haben, durch die verzweifelte Menschenmenge zu kommen und trotzdem nicht auf das Flughafengelände gelassen wurden.

Hinzu kommen die Checkpoints der Taliban, die an verschiedenen Orten die Straßen zum Flughafen blockieren.

Schriftliche Aufnahmezusage kommt viel zu spät

Während US-Behörden Visa und Informationen zu den Flügen auf die Handys von Gefährdeten schicken, verrinnen die Stunden: Erst am Mittwoch, 25.8., einen Tag, bevor der letzte Evakuierungsflug der Bundeswehr startet, erhalten wir die Information, dass eine schriftliche Aufnahmezusage für einige der Kolleg:innen und ihre Familien vorliegt. Wir schicken sie sofort per Mail an die Kolleginnen vor Ort weiter.

Am Donnerstag (26.08.) soll es endlich soweit sein. Einige Frauen und ihre Angehörigen sind für einen zivilen Evakuierungsflug vorgesehen. Sie schaffen es an den Checkpoints der Taliban vorbei bis zum Flughafen. Die deutschen Behörden versichern uns, dass ihre Namenslisten den Truppen im Flughafen vorliegen. Aber: Am Tor zum Flughafengelände wird ihnen der Zugang verwehrt. Sie versuchen noch, die Soldat:innen am Tor zu überzeugen, doch diese reagieren mit Drohungen und schießen in den Boden zu ihren Füßen. Die Aktion wird abgebrochen.

Weiterhin in großer Sorge, aber wir geben nicht auf!

Später erschüttern Explosionen das Gebiet um den Flughafen. Fast 200 Menschen sterben bei den Anschlägen. Wir sind tief betroffen und doch froh: Unsere Kolleg:innen sind zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in der Nähe des Flughafens.

Wir sind erschöpft, wütend und in großer Sorge um die Sicherheit unserer afghanischen Kolleg:innen. Die Bundesregierung hat diese mutigen Frauen im Stich gelassen. Frauen, die sich in den vergangenen Jahren – auch mit Förderung der Bundesregierung – für Frauenrechte und Rechtsstaatlichkeit eingesetzt haben. Eine Arbeit, für die diese Frauen nun in ihrem Leben bedroht sind.

Für uns steht außer Frage: Wir werden uns weiter für die Sicherheit der Kolleg:innen einsetzen – auch nach dem Ende der Luftbrücke durch die internationalen Truppen.

Die Sicherheit von Frauenrechtsaktivist:innen und allen anderen gefährdeten Menschen, die sich in den vergangenen Jahren für Menschenrechte, eine pluralistische Gesellschaft und Freiheit eingesetzt haben, muss jetzt oberste Priorität haben.

medica mondiale fordert,

  • dass die Bundesregierung ihre Zusage aufrechterhält und alle afghanischen Frauenrechtsaktivist:innen als besonders schutzbedürftige Personen einstuft und in der Folge wie Ortskräfte nach § 22 AufenthG behandelt. Dazu gehören auch unsere Kolleg:innen und ihre Familien. Diese Menschen müssen alle für eine Ausreise erforderlichen Dokumente so schnell wie möglich von den zuständigen deutschen Behörden erhalten.
  • dass die Bundesregierung bei den Verhandlungen mit den Taliban und in Zusammenarbeit mit der Internationalen Gemeinschaft alles dafür tun, damit gefährdete Menschen auch nach dem Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan evakuiert werden können, zum Beispiel durch zivile Flüge. Und sie muss gewährleisten, dass sie diese durch einen sicheren Korridor erreichen können.
  • dass die Evakuierungen von Frauenrechtsaktivist:innen und anderen gefährdeten Menschen, denen die Flucht aus Afghanistan in einen Drittstaat gelungen ist, unbürokratisch von dort aus nach Deutschland fortgeführt werden.
  • dass die Bundesregierung Informationen zu weiteren Evakuierungen und ihren Ablauf schnellstmöglich gegenüber betroffenen Organisationen und Einzelpersonen transparent macht und feste Ansprechpartner:innen für zivilgesellschaftliche Akteur:innen benennt.
  • dass groß angelegte Bundes- und Landesaufnahmeprogramme für alle Menschen geschaffen werden, die sich für Menschenrechte, Demokratie und eine freie Gesellschaft in Afghanistan eingesetzt haben und denen die Flucht aus Afghanistan in Drittstaaten gelungen ist.

 

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