Portrait Yalda Bilal Ahadi

Yalda Bilal Ahmadi

Juristin und frühere Projektreferentin bei Medica Afghanistan

Ich hoffe, dass niemand durchmachen muss, was ich erlebt habe. Ich wurde im Krieg geboren. Ich wuchs im Krieg auf. Ich kämpfte für meine Rechte und die Rechte aller Frauen. Ich hoffte auf eine friedliche Zukunft und in einem einzigen Augenblick war alles zerstört. 

Ich bin Strafverteidigerin und arbeitete bei Medica Afghanistan in den Bereichen Recht und Advocacy. Das war nicht nur ein Job. Mein Team und ich brachten Veränderung in das Leben von Menschen. Wir forderten Gesetzesänderungen ein, betrieben Lobbyarbeit gegen sogenannte Jungfräulichkeitstests – gynäkologische Zwangsuntersuchungen durch Behörden – und für das Recht auf Schmerzensgeld auch bei psychischen Verletzungen. Wir sprachen mit Vertreter:innen von Ministerien und dem Obersten Gericht und kämpften für die Rechte von Überlebenden sexualisierter Gewalt. Manche von ihnen waren erst 14.  

Das in einer patriarchalen Gesellschaft als Frau zu tun, war nicht einfach. Jeder Schritt brachte uns in Gefahr. Manchmal, wenn ich vor wichtigen Personen sprach – in der Regel waren das Männer –, hatte ich Angst. Aber trotzdem ging ich diesen einen Schritt weiter, ergriff das Wort für die Rechte der Frauen in Afghanistan. Wir waren so stolz auf unsere Arbeit. Wie glücklich war ich, als EVAW verabschiedet wurde, das Gesetz zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen (auf Englisch: „Elimination of Violence against Women“). Nach langen Kämpfen trat es 2009 in Kraft und erkannte zum ersten Mal Vergewaltigung und Gewalt in der Familie als Straftaten an.  

Dann kamen die Taliban.  

Meine Schwägerin, die seit ihrem Studium in Polen lebt, setzte Himmel und Hölle in Bewegung, um humanitäre Visa für uns und andere Aktivist:innen zu erhalten. Wir waren in Gefahr. Nicht nur, dass die Taliban Frauenrechtsaktivist:innen verfolgten.

Sie hatten auch die Gefängnisse geöffnet. Unter den Gefangenen waren Männer, deren Verurteilung auch auf meine Arbeit zurückzuführen war.  

Dank der Bemühungen meiner Schwägerin erhielten wir Visa der polnischen Regierung. Wir waren insgesamt 16 Personen, darunter kleine Kinder und alte Menschen. Mit den Papieren in der Tasche fuhren wir am 23. August zum Flughafen. Ich war im zweiten Monat schwanger.  

Yaldas Flucht nach Deutschland

Route Map
haus icon
Kabul, Afghanistan
flugzeug icon
Grupa, Polen (25.08.21)
zug icon
Köln, Deutschland (30.10.21)

Einen ganzen Tag und eine ganze Nacht versuchten wir, zu einem der Eingänge zu gelangen. Vergeblich. Überall waren verzweifelte Menschen.

Taliban schossen in die Luft, um sie ruhig zu halten. Es war kein Durchkommen. Als meiner Mutter und meiner Schwiegermutter die Kraft ausging, gaben wir auf. Einen Tag später versuchten wir es erneut. Wir waren in Kontakt mit den polnischen Soldat:innen, aber die Schlangen waren zu lang. Wir kamen nicht durch zu ihnen. Wieder gaben wir auf. 

Beim dritten Mal gelang es uns, näher an den Flughafen heranzukommen: Außen am Gebäude verläuft ein Abwasserkanal. Dort sind wir rein. Die Kinder auf dem Arm, die Alten stützend, wateten wir durch die kniehohe, stinkende Kloake. Am Ende erwarteten uns polnische Soldat:innen und zogen uns aus dem Schmutz. 

Yalda Brustbild

Zwei Monate verbrachten wir in einer Geflüchtetenunterkunft in Polen. Ich fühlte mich wie ein Vogel in einem goldenen Käfig und weinte jeden Tag. Dann konnte ich dank Vermittlung von medica mondiale mit meinem Mann und unseren Kindern nach Deutschland. Ich war glücklich – und verzweifelt zugleich. Meine Eltern und meine Schwiegermutter hatten wegen mir ihre Heimat verloren und jetzt ließ ich sie in der Fremde allein?  

Heute leben wir zumindest wieder im selben Land. Wir in Nordrhein-Westfalen, der Rest der Familie in Bayern und Thüringen. Momentan sehen wir uns nur selten, die Entfernung ist zu groß. Wir konnten noch keine Wohnung finden und leben in einer Geflüchtetenunterkunft. Ich hoffe, irgendwann können wir zumindest wieder zusammen an einem Ort leben. 

Meine nächsten Schritte? Gerade lerne ich Deutsch. Mein kleiner Sohn ist jetzt zwölf Monate alt. Wenn er etwas älter ist, will ich versuchen, eine Arbeit in meinem Bereich zu finden, vielleicht als Rechtsanwaltsfachangestellte.  

Ich sehne den Tag herbei, an dem ich mich wieder aktiv für Gerechtigkeit einsetzen kann: an dem ich erneut Gesetzestexte vergleichen und Gesetzesänderungen erarbeiten werde, an dem ich für die Umsetzung dieser Änderungen lobbyieren, mich mit andere Aktivist:innen vernetzen und Frauen vor Gericht vertreten werde. Ich bin froh, in Deutschland leben zu können. Aber ich bete oft zu Gott, alles möge nur ein böser Traum gewesen sein. Ich wünschte, ich könnte in meinem Bett in Kabul aufwachen und den Weg dort fortsetzen, wo er im August 2021 gewaltsam unterbrochen wurde. Voller Hoffnung auf die Zukunft.  

Portrait Yalda Bilal Ahadi
Yalda Bilal Ahmadi
Yalda Bilal Ahmadi (33) arbeitete seit 2014 als Strafverteidigerin und Projektreferentin bei Medica Afghanistan in Kabul. Derzeit ist sie in Elternzeit. Danach möchte sie wieder in der Rechtsberatung tätig sein.