Portrait Wahida Mohammed Zai

Wahida Mohammed Zai

Ehemalige Direktorin des Finanzminssteriums der Provinz Kabul, frühere Programmkoordinatorin bei Medica Afghanistan

Content Warning: Sexualisierte Gewalt, Blut. Geben Sie auf sich acht!

Angst vor dem Tod hatte ich nicht, als die Taliban im Sommer 2021 in Kabul einfielen. Er war schon lange Teil meines Lebens. Aber ich hatte große Angst vor Folter. Die meisten Frauen, die die Taliban gefangen nahmen – die Demonstrantinnen, die Frauen, die für die Regierung oder internationale Organisationen gearbeitet hatten – wurden gefoltert und vergewaltigt.

Das war meine Angst. Und dass sie meiner Familie etwas antun könnten. Schließlich war bekannt, dass ich mich seit über 15 Jahren für die Rechte von Frauen und eine gerechte Gesellschaft einsetzte.  

Im September 2005 war ich nach mehr als 20 Jahren des Exils in Pakistan mit meinen Eltern nach Kabul zurückgekehrt. Ich war 24 Jahre alt und hatte gerade mein Medizinstudium abgeschlossen. Schnell fand ich eine Stelle in einem Krankenhaus. Hier traf ich eine Mitarbeiterin von medica mondiale, die einige meiner Patientinnen unterstützten. Was sie von ihrer Arbeit erzählte, überzeugte mich sofort. Im November 2005 begann ich, als Programmkoordinatorin für die Organisation zu arbeiten.   

Wir waren wie eine Familie. Wir erlebten die Diskriminierung von Frauen jeden Tag in unseren Häusern, in unserem Land. Wir erlebten, wie wichtig unsere Arbeit war.

Und wir arbeiteten so hart, wir alle: Nabila, Masiha, Sajia …    

Einfach war es nicht. Morgens wussten wir oft nicht, ob wir unsere Familien abends wiedersehen würden. Noch immer habe ich den ohrenbetäubenden Lärm der Bombenexplosionen im Kopf. Ich war trotz allem glücklich. Ich konnte arbeiten, bei meiner Familie sein und mein Land aufbauen.    

Nach einigen Jahren wechselte ich zu USAID, der Institution der USA für Entwicklungszusammenarbeit. Das Büro lag gegenüber dem Parlamentsgebäude. Meine Tochter war damals erst ein paar Monate alt. Jeden Morgen nahm ich sie mit zur Arbeit. Dort hatte ich gemeinsam mit einer Kollegin eine Betreuung für unsere Kinder organisiert.   

Am 22. Juni 2015 saß ich am Schreibtisch. Es war heiß und ich hatte die Schuhe ausgezogen, als eine riesige Explosion unser Gebäude erschütterte. Fensterscheiben barsten. Eine Autobombe war vor dem Parlament explodiert. Alles war zerstört. Und ich rannte, wie ich noch nie in meinem Leben gerannt bin, den Gang entlang zu dem Zimmer, in dem meine Tochter spielte.   

Nie werde ich den Moment vergessen, als ich sie sah, unverletzt. Sie war so klein. Ich nahm sie auf den Arm und hastete gemeinsam mit der Betreuerin und dem zweiten Baby in den Schutzraum zu den anderen Kolleg:innen. Draußen schlugen Schüsse ein, Sirenen schrillten, überall war Rauch.   

Wahidas Flucht nach Deutschland

Route Map
haus icon
Kabul, Afghanistan
flugzeug icon
Leipzig, Deutschland (14.10.21)

Nach zehn Minuten bemerkte ich rote Spuren auf den weißen Fliesen. Und ich sagte: „Jemand ist verletzt.“ Aber es war mein Blut. Ich hatte mir die nackten Füße an den Scherben aufgerissen, ohne es zu merken.

„Salute to you, Dr. Zai“, sagte ein Kollege. „Wir haben Sie durch die Gänge rennen sehen. Wir sind Männer, aber wir haben uns versteckt.“ Und ich antwortete: „Ich bin eben eine Mutter.“ 

2018 endete das Projekt und ich wurde die erste Direktorin des Finanzministeriums für die Provinz Kabul. Ich hatte 70 Leute unter mir. Und viele Feinde, weil ich die Korruption bekämpfen wollte. Außerdem war ich eine Frau. Und wer als Frau für die Regierung arbeitete, war in den Augen vieler Menschen eine schlechte Frau. Gute Frauen sind sanft und leise. Ich war nie sanft oder leise.   

Als die Taliban Kabul einnahmen, wurde ich zur Geflüchteten in meinem eigenen Land. Sie kamen in mein Büro, schlugen meinen Assistenten, wollten wissen, wo ich sei. Aber mein Team war loyal. Keiner verriet mich. Sicherheitshalber schliefen wir jede Nacht woanders, bei Freundinnen, Cousins, Tanten ...  

Wahida Brustbild

Wir hatten Glück. Mein Mann, meine Tochter und ich waren unter den Ersten, die dank medica mondiale ausreisen konnten. Aber zum zweiten Mal in meinem Leben bin ich nun eine Geflüchtete und muss wieder ganz von vorne anfangen. Das kostet viel Kraft.  

Ich möchte zurück in meine Heimat, aber ich sehe nicht, wie das gehen soll. Afghanistan ist nicht sicher. Nicht für die Frauen, natürlich. Aber auch nicht für die Männer. Auch sie dürfen ihre Stimme nicht gegen die Taliban erheben. Aber dann denke ich: Wenn alle Männer zusammenstehen würden gegen die Taliban, könnten sie vielleicht etwas erreichen. Und doch sind bei den Protesten nur Frauen auf die Straßen gegangen. Wo sind die Väter? Wo sind die Brüder, die Ehemänner? Wieso haben sie ihre Frauen nicht verteidigt?  

Portrait Wahida Mohammed Zai
Wahida Mohammed Zai
Wahida Mohammed Zai (46) leitete von 2018 bis 2021 als Direktorin das Finanzministerium der Provinz Kabul. Zuvor war sie bei medica mondiale in Afghanistan als Projektkoordinatorin und -managerin tätig und arbeitete für mehrere andere internationale Organisationen. Wahida Mohammed Zai ist Vorsitzende der Frauenrechtsorganisation Hami – Women Empowerment Organization e. V..