Portrait von Sosan Yaqobi

Sosan Yaqobi

Studentin, Tochter eines ehemaligen Wachmanns von Medica Afghanistan

Am Tag, an dem Kabul stürzte, stürzten auch meine Hoffnungen und Träume. 

Mein Vater hatte 13 Jahre als Wachmann bei Medica Afghanistan gearbeitet. Er selbst kann weder lesen noch schreiben. Aber er hat alles dafür getan, dass seine Tochter einmal studieren kann. Am 14. August 2021 war ich 19 Jahre alt und hatte gerade mein erstes Semester Wirtschaftswissenschaften abgeschlossen. Ich war verlobt. Ich freute mich auf die Zukunft.  

In dieser Nacht übernahmen die Taliban die Herrschaft über meine Heimatstadt Masar-e Scharif. Am Tag darauf brachten sie Kabul unter ihre Kontrolle. Für die Taliban war mein Vater ein „Verräter“, weil er für eine internationale Organisation gearbeitet hatte. Sein Leben war in Gefahr, ebenso seine Familie: meine Mutter und ich. 

Fünf Monate hat es gedauert, einen Weg aus Afghanistan zu finden. Fünf Monate, in denen wir gegen Behördenwillkür kämpften und darum, die Hoffnung nicht zu verlieren, in denen ich heiratete und dabei vor Verzweiflung weinte – und an deren Ende uns meine Liebe zu Bollywood schließlich die Ausreise ermöglichte. 

Unmittelbar nach der Machtübernahme der Taliban informierte uns medica mondiale, dass sie daran arbeiteten, Mitarbeiter:innen und ihre Kernfamilien zu evakuieren. Mein Vater, meine Mutter und ich sollten schnellstmöglich nach Kabul kommen, von dort würde es weitergehen. Doch dafür brauchten wir erst einmal einen gültigen Pass. 

Als die Passbehörde im Oktober wieder öffnete, reihten wir uns deshalb gemeinsam mit Tausenden anderen in die Warteschlangen ein. Wochenlang schafften wir es nicht ins Gebäude. Mein Verlobter war Apotheker in Kabul. Unermüdlich begleitete er mich. Ich konnte nicht aufgeben. Ich hatte doch mein ganzes Leben vor mir! Ein Leben, das ich in Freiheit führen wollte. Und mit ihm. Es zerriss mich innerlich, zu wissen, dass ich mit meinen Eltern unsere Heimat verlassen würde – ohne ihn. Ganz offiziell wollte ich unseren Bund bekräftigen. Deshalb organisierten wir im Oktober eine Nikah, eine religiöse Trauung. 

Einige Wochen später schaffte ich es in die Passbehörde.  

Sosans Flucht nach Deutschland

Route Map
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Kabul, Afghanistan
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Islamabad, Pakistan (03.12.21)
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Leipzig, Deutschland (17.12.21)

Als der Beamte meine Papiere sah, warf er sie auf den Boden.

Ich sammelte sie auf, zeigte ihm die E-Mails von medica mondiale. „Bitte“, flehte ich. „Ich kann nicht mehr.“ Da nahm er die Papiere. „Warte bis heute Nachmittag.“ Stunden später sah ich ihn wieder. Vor dem Gebäude, auf einem Pick-up, las er Namen vor. Eine Stunde lang. Die letzten Namen waren unsere.  

Ich rannte ins Gebäude, um im nächsten Büro das nächste Formular zu holen. Es war 16 Uhr. Als ich an der Reihe war, unterzeichnete der Beamte das Formular meines Vaters. Er unterzeichnete das Formular meiner Mutter. Dann legte er den Stift beiseite. „16.30 Uhr“, sagte er. „Feierabend.“ Erst als zwei seiner Kollegen auf ihn einredeten, setzte er seinen Namen auch unter mein Formular. Ich war unfassbar erleichtert. Jetzt mussten wir nur noch unseren Fingerabdruck abgeben, dann war es geschafft. Doch abends hörte ich in den Nachrichten, dass die Passbehörde bis auf Weiteres geschlossen blieb.  

Irgendwann zahlten wir 900 Dollar, um die Pässe zu erhalten, und nochmals über 2000 Dollar für Visa nach Pakistan. Es waren Visa für medizinische Behandlungen, die waren am günstigsten.  

In der Nacht des 20. Januars verließen wir Kabul. Den Grenzübergang erreichten wir am nächsten Morgen. „Für medizinische Visa ist das System gerade gesperrt“, sagte der erste pakistanische Grenzbeamte. Der zweite behauptete, unsere Papiere verloren zu haben. Meine Eltern setzten sich irgendwann erschöpft auf unsere Koffer. Hinter dem Grenzzaun, auf afghanischer Seite, schrieb mein Mann. „Ich warte, bis ihr sicher drüben sein“. Der nächste Beamte, den ich ansprach, fragte überrascht: „Wieso sprichst du so gut Urdu?“. Ich liebe Bollywood-Filme. Und die laufen bei uns auf Urdu, der Nationalsprache Pakistans. Ich zeigte ihm Fotos unserer Visa und Pässe. Und er? Sagte: „Hol deine Eltern.“ 

Drei Jahre ist das jetzt her. Als ich mich vor dem rostigen Grenzzaun von meinem Mann verabschiedete, sagte er: „Sieh zu, dass du deinen Träumen folgst. Alles andere schaffen wir.“ Ich sehne den Tag herbei, an dem dieser Albtraum der Verzweiflung ein Ende hat und ich ihn endlich wiedersehe.  

Jetzt hoffe ich, dass mein Mann im Rahmen der Familienzusammenführung nach Deutschland kommen kann. Wieder habe ich einer Behörde alle Papiere übermittelt: Eheurkunde, Passdaten, Nachweis seiner Deutschkenntnisse ... Wieder warte ich darauf, dass jemand den Antrag genehmigt. Die Anspannung lässt wenig Platz für Träume. 

Portrait von Sosan Yaqobi
Sosan Yaqobi
Sosan Yaqobi (25) hatte gerade das erste Semester ihres Wirtschaftsstudiums beendet, als die Taliban die Stadt eroberten. Ihr Vater war 13 Jahre lang als Wachmann für die Sicherheit der Kolleginnen von Medica Afghanistan in Masar-e Scharif verantwortlich. Sie möchte Medizin studieren und ihren Beitrag für die Gesellschaft leisten.