Portrait Sonia Yaquibi

Sonia Asaqzada

Frühere Referentin für Monitoring und Evaluierung bei Medica Afghanistan

Ich träume von einer Welt des Friedens. Einer Welt ohne Gewalt gegen Frauen, ohne Verbrechen und Vergewaltigung. Dafür habe ich mich jahrelang eingesetzt. Und tue das immer noch. Ehrenamtlich engagiere ich mich bei der Women’s International League for Peace and Freedom (WILPF). Ich hoffe, bald auch wieder beruflich für eine friedliche Welt kämpfen zu können. 

Seit ich 16 bin, arbeite ich. Auch am Morgen des 15. Augusts 2021 saß ich am Schreibtisch. Meine Kollegin kam ins Büro gelaufen: „Hörst du das?“, rief sie. Ich lauschte. „Nara-e-Takbir“‘, erst leise, dann immer lauter. „Nara-e-Takbir“, „Gott ist groß“. Es ist der Schlachtruf der Taliban, den sie nach siegreichen Attacken anstimmen. Sie hatten Kabul eingenommen und wir alles verloren, wofür wir in den vergangenen Jahre gekämpft hatten. 

Ich hatte Angst. Um mich, um die Menschen, die wir nun nicht mehr unterstützen konnten, um meine Familie.

Ich hatte 13 Jahre lang für die Rechte von Frauen gekämpft, dafür gearbeitet, dass Mädchen zur Schule gehen konnten, und mich für Kinder in Jugendstrafanstalten eingesetzt, die zu Selbstmordattentäter:innen ausgebildet worden waren. Mein Mann hatte acht Jahre für USAID gearbeitet, die Institution der USA für Entwicklungszusammenarbeit.  

In den folgenden Wochen bekam ich gefakte E-Mails und Telefonanrufe. Man bot mir die Ausreise an oder einen guten Job. Ich müsse nur um eine bestimmte Uhrzeit an einen bestimmten Ort kommen. Jede Nachricht eine Falle. Natürlich ging ich nicht. 

Dafür kamen die Taliban. Zwei Mal durchsuchten sie unser Gebäude. Wir hatten Glück: Die versteckten Zeugnisse und Arbeitsdokumente fanden sie nicht. Aber ich wurde krank. Ich konnte nicht mehr schlafen, nicht mehr essen. Die Kolleg:innen von medica mondiale organisierten psychosoziale Unterstützung. Und sie suchten einen Weg für uns raus aus Afghanistan. 

Sonias Flucht nach Deutschland

Route Map
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Kabul, Afghanistan
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Herat, Afghanistan (20.01.22)
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Maschad, Iran (21.01.22)
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Teheran, Iran (22.01.22)
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Düsseldorf, Deutschland (02.02.2022)

Um über eins der Nachbarländer ausreisen zu können, brauchten wir gültige Pässe. Schon bevor die Taliban in Kabul einmarschiert waren, hatte ich neue beantragt. Aber die Taliban waren schneller als die Passbehörde.

Als sie wieder öffnete, waren die Schlangen so lang, dass uns nichts anderes übrigblieb, als für 1.000 Dollar einen Termin zu „kaufen“. Um 3 Uhr nachts reihten wir uns ein: Ich mit unseren beiden fünf- und sechsjährigen Söhnen in die Schlange für Frauen, mein Mann in die für Männer. Die Taliban schlugen die Wartenden mit Kabeln, wenn sie zu unruhig wurden. Zwölf Stunden mussten wir warten.  

Nach einer Woche erhielten die Kinder und ich Pässe. Doch damit auch mein Mann einen bekam, mussten wir weitere 500 Dollar zahlen. Mit den Pässen beantragten wir für 1.500 Dollar Visa für Pakistan. Und wieder erhielten nur die Kinder und ich welche.  

Dann neue Hoffnung: Im November sollten wir über Doha ausreisen. Doch am Vorabend wurde der Flug gecancelt. Nächster Versuch im Dezember: Ausreise über Iran. Aber die Person, die sich um unser Visum kümmerte, wurde von den Taliban verhaftet. Als das neue Jahr anbrach, war ich verzweifelt. 

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Drei Wochen später, am Morgen des 19. Januars, traf eine E-Mail von medica mondiale ein: In drei Tagen sollten wir für einen Termin an der Deutschen Botschaft in Teheran sein. Wir dachten erst an einen Scherz. Wie sollte das gehen? Ohne Visum? Am Nachmittag dann ein Anruf: „Seid ihr bereit? Heute Abend geht es los.“ Zwei Stunden später holten wir die Visa ab. Wieder hatten nur die Kinder und ich welche erhalten. „Wir kümmern uns“, schrieb das Team von medica mondiale. „Fahrt los!“ Am Abend verließen wir Kabul. Zeit, meine Mutter noch einmal zu umarmen, blieb nicht.   

Es war der 21. Januar, 16.45 Uhr, als sich unser Bus nach einer 26-stündigen Fahrt dem Grenzübergang bei Herat näherte. Uns blieben 15 Minuten bis zur Schließung des Übergangs. Noch immer fehlte das Visum meines Mannes. Wir warteten. Um 16.50 Uhr vibrierte mein Handy. Aber der Empfang war so schlecht. Wir starrten auf das kleine Ladesymbol. Und auf die Grenze vor uns. „Wir müssen los“, drängte der Fahrer. Er fuhr an. Und endlich – endlich! – erschien das Visum auf dem Display. „Ich bin frei“, dachte ich. 

Doch ganz frei bin ich nicht. Die Angst um die Menschen in Afghanistan hält mich fest im Griff. Zwei Mal schon mussten meine Mutter und meine Geschwister umziehen, weil die Taliban sie bedrohten. Vor zwei Monaten wurde mein Cousin von Unbekannten ermordet. Er war 25 Jahre alt, seine Frau im achten Monat schwanger. Und ich kann ihnen ebenso wenig helfen wie unseren früheren Klientinnen.  

Alle haben Afghanistan vergessen. Meine Bitte an die westlichen Regierungen: Helft zumindest den Mädchen. Sorgt dafür, dass sie zur Schule gehen können, damit sie – wie ich – die Chance auf eine Zukunft haben. 

Portrait Sonia Yaquibi
Sonia Asaqzada
Sonia Asaqzada (32) war Referentin für Monitoring und Evaluierung sowie Projektreferentin bei verschiedenen internationalen Organisationen, unter anderem bei Medica Afghanistan. Sie engagiert sich ehrenamtlich bei der Women’s International League for Peace and Freedom (WILPF) und plant eine Weiterbildung – entweder zur Buchhalterin oder im Bereich Monitoring und Evaluation.