
Somaya Ebrahimi
Psychologin und frühere psychosoziale Beraterin bei Medica Afghanistan
Es waren grausame Entscheidungen, die wir treffen mussten.
Als die Taliban seit Frühling 2021 immer mehr Provinzen eroberten, begannen wir an Plänen zu arbeiten, wie wir auch unter schwierigen Sicherheitsbedingungen die Arbeit von Medica Afghanistan aufrechterhalten könnten. Am 14. August stellten wir auf ein Schichtsystem um: Immer nur die Hälfte des Teams arbeitete vom Büro aus. So war auch immer nur die Hälfte von uns in Gefahr.
Am 15. August 2021 war ich deshalb zu Hause – und trotz aller Vorbereitungen unvorbereitet. Als diese Männer auf ihren Motorrädern wie ein Virus die Stadt befielen, war ich gelähmt vor Angst.
Am Abend traf mit einer Nachricht von medica mondiale der erste Hoffnungsschimmer ein. Wir sollten evakuiert werden. Aber nur mein Mann, unsere Tochter und ich konnten auf die Liste. Mein Mann hat fünf jüngere Schwestern. Sollte er mit mir gehen und seine Schwestern, seine Mutter, seine Großmutter allein lassen? Wie entscheiden, wenn es kein Richtig gibt? Wenn sich jede Entscheidung falsch anfühlt?
Die Familie sagte: „Geht. Wir sind froh, wenn wenigstens ihr in Sicherheit seid.“ Damit war die Entscheidung gefallen. Mein Herz blutete. Es blutet noch immer.
Wegen meiner Familie, aber auch wegen meiner Kolleginnen: Wie fühlt sich eine Mutter, die ihre erwachsenen Kinder zurücklassen soll? Wie eine Tochter, die vor der Wahl steht, ihre alten Eltern zu retten oder ihre jüngeren Geschwister?
Mein Vater fuhr uns zum Flughafen. Die weiße Fahne der Taliban war überall. Ich konnte kaum atmen. Wir waren noch auf dem Weg, als die Anweisung kam: „Fahrt nicht zum Flughafen, aber bleibt in der Nähe.“ Also brachte mein Vater uns zu einem meiner Cousins. Der Abschied war furchtbar. In der Nacht bekam unsere Tochter hohes Fieber, aber wir konnte keine Medikamente besorgen. Ich saß da, meine Tochter im Arm, das Handy neben der Matratze auf dem Boden, in ständiger Alarmbereitschaft. Es waren die schlimmsten Stunden meines Lebens.
Somayas Flucht nach Deutschland

Am Morgen kamen mit dem ersten Tageslicht grausame Bilder aufs Handy: Menschen, die sich an die Fahrwerke der Flugzeuge klammerten, die abstürzten, die den Tod einem Leben unter den Taliban vorzogen.
Als klar wurde, dass die Evakuierung per Flugzeug erst einmal nicht klappen würde, fuhren wir zurück in unsere Wohnung. Tag für Tag hofften wir auf eine Möglichkeit auszureisen. Wochenlang vergebens. Erst waren wir nicht in den Flughafen gekommen, dann waren die Grenzen geschlossen, dann musste ich meinen Pass verlängern, dann bekamen wir kein Visum. Immer wieder zerstörte Hoffnung. Erst im Dezember konnten wir über Pakistan nach Deutschland fliegen.

Die ersten Monate waren schwer. Wir lebten in einer überfüllten Geflüchtetenunterkunft wie eingesperrt, weil Corona die Welt im Klammergriff hielt, und gleichzeitig ausgesperrt, weil uns die Sprache fehlte, um mit Menschen in Kontakt zu kommen.
Aber medica mondiale organisierte Deutschkurse für uns. An der Frankfurt University of Applied Sciences machte ich ein Aufbaustudium. Seit März 2023 engagiere ich mich beim Projekt ‚Self-Care and Collective Care Plattform‘ von medica mondiale, bei dem geflüchteten Afghan:innen und Aktivistinnen in Afghanistan psychosoziale Unterstützung erhalten. Im selben Jahr fanden wir endlich eine eigene Wohnung. Und Anfang 2024 gründete ich gemeinsam mit ehemaligen Kolleginnen Hami e. V.
Ich arbeite, seit ich 16 bin. Während der Schulzeit als Aushilfe in einer Arztpraxis, später in einer psychosozialen Klinik. Seit 2017 unterstützte ich bei Medica Afghanistan gewaltbetroffene Frauen. Wir gingen in Krankenhäuser und Gefängnisse, standen verletzten und verurteilten Frauen bei. Immer wieder kam es vor, dass eine Frau auf der Suche nach Schutz in der Polizeiwache vergewaltigt oder dafür verhaftet wurde, dass sie ihren gewalttätigen Mann anzeigte. Es war brutal – und unsere Arbeit so wichtig.
Die Vorstellung, ohne Arbeit zu Hause eingesperrt zu sein … Ich hätte mich umgebracht, wären wir nicht aus Afghanistan herausgekommen. Doch nicht einmal die Erleichterung, der Hölle entkommen zu sein, und die Freude, wieder als Psychologin zu arbeiten, schaffen es, die Beklemmung ganz zu verdrängen. Oft wünsche ich, ich hätte eine Wunderlampe und könnte meine Familie zu mir bringen, in diese Ruhe, in diese Sicherheit.
Wer auch immer politisch seine Hände im Spiel hat: Er soll sich doch einfach sein Stück vom afghanischen Kuchen holen. Zerstückelt das Land, aber lasst die Menschen endlich zur Ruhe kommen! Vor allem die Frauen. Das Schicksal hat ihnen übel mitgespielt. Aber sie haben es überlebt. Und sie werden hoffentlich auch den derzeitigen Zustand besiegen. Weil afghanische Frauen Heldinnen sind. Und Heldinnen niemals ihre Macht verlieren.