
Shumaisa Rahimi
Frühere Strafverteidigerin bei Medica Afghanistan
Content Warning: Morddrohung. Geben Sie auf sich acht!
Jura war meine Berufung. Meine Mutter war Ärztin. Oft behandelte sie verletzte Frauen bei uns zu Hause. Ich sah, was sie zu erleiden hatten. Und dagegen wollte ich etwas tun.
Geboren bin ich 1992 in Kabul. Als ich ein Jahr alt war, zogen wir nach Masar-e Scharif. An der dortigen Universität studierte ich später tatsächlich Jura. Anfangs arbeitete ich als Verteidigerin bei der Anwaltskammer. 2019 wechselte ich zu Medica Afghanistan.
Bis 2021 vertrat ich in Samangan (auch: Aibak), der Hauptstadt der gleichnamigen Nachbarprovinz, Frauen vor Gericht.
Und ich ging in die Dörfer, um sie über ihre Rechte aufzuklären. Dass Mädchen das Recht haben, zur Schule zu gehen beispielsweise. Oder dass niemand sie zu einer Ehe zwingen darf. Und natürlich informierte ich über die Möglichkeiten, diese Rechte auch einzuklagen.
Lange bevor die Taliban im August 2021 erneut die Macht übernahmen, waren sie die eigentlichen Herrscher in den Dörfern Samangans. Um uns zu schützen, wechselten meine Kollegin und ich regelmäßig die Autos. Und wir nahmen keine Fälle an, in die Taliban verstrickt waren. Bis zum Juni 2021.
Eine Frau hatte mich kontaktiert. Sie wollte sich von ihrem gewalttätigen Mann scheiden lassen. Bauer, sei er, sagte sie auf meine Nachfrage hin. Später sollte sich herausstellen, dass der Bauer ein Talib war. Sie zog die Scheidung zurück und ich erhielt einen Anruf: „Wir haben dem Hund vor der Tür ein Schreiben für dich gegeben“, sagte ein Mann und legte auf. Beim Wachmann war tatsächlich ein Brief für mich abgegeben worden. Ein offizieller Erlass der Taliban, mit dem sie mich zum Tode verurteilten. Begründet damit, dass ich Frauen auf den falschen Weg brächte.
In dieser Nacht schlief ich bei meiner Kollegin. Ich wagte nicht, zu meiner Tante zu gehen, bei der ich normalerweise während der Arbeitswoche wohnte. Die Wochenenden verbrachte ich immer in Masar-e Scharif, wo mein Mann lebte. Dorthin sollte ich auch am nächsten Morgen fahren. So war es abgesprochen mit dem Sicherheitsverantwortlichen von Medica Afghanistan.
Shumaisas Flucht nach Deutschland

An jenem Morgen war ich eine der Ersten im Bus. Wenig später setzte sich eine Frau neben mich. Dann füllte es sich. „Außer uns sind ja nur Männer hier“, sagte meine Sitznachbarin irgendwann. Ob ich nicht umsteigen wolle. Das Auto dort gehöre Bekannten. Da sei noch Platz für uns. Ich lehnte ab. Wenige Minuten später erhob sie sich:
„Wir werden dich finden“, zischte sie beim Hinausgehen. „Und wir werden dich vernichten.“
Ich bin nie wieder nach Samangan zurückgekehrt.
In den folgenden Wochen brachten die Taliban immer mehr Gebiete unter ihre Herrschaft. Am 12. August flogen mein Mann und ich deshalb nach Kabul. Ich war im dritten Monat schwanger. In der Hauptstadt, dachten wir, wären wir sicher. Doch es kam anders. Am 15. August fiel Kabul in die Hände der Taliban. 20 Jahre Fortschritt, in wenigen Stunden ausgelöscht.

Kurz darauf begannen sie, meine Schwiegerfamilie unter Druck zu setzen. Sie drangen in unser Haus ein, durchwühlten mein Arbeitszimmer. Aber sie fanden keine relevanten Dokumente. Die hatte ich vor meiner Abreise vernichtet.
Ich war entkommen. Aber die Gefahr war geblieben. Bis heute ziehen meine Schwiegereltern um, sobald sie merken, dass nach ihnen gefragt wird. Mein Schwager wurde verhaftet. Eine Woche war er in der Gewalt der Taliban, bis ihn die Familie freikaufen konnten. Es ist kaum zu ertragen.
Ein gewisser Trost ist, dass meine Eltern seit einigen Monaten auch in Sicherheit sind. Mein Vater hatte lange bei der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit gearbeitet. Deshalb konnten sie nach Deutschland ausreisen.
Wir schafften es früher. Im November 2021 landeten wir in Hannover, in einer großen Leere. Der erste Winter war eine dunkle Zeit. Ich war mittlerweile hochschwanger und hatte Schmerzen. Aber der Frauenarzt nahm mich nicht ernst. Erst als eine Sozialarbeiterin mich in die Praxis begleitete, wurde ich richtig untersucht. Dabei stellte sich heraus, dass ich kaum noch Fruchtwasser hatte. Per Notkaiserschnitt kam mein Sohn in Fulda auf die Welt.
Heute geht es uns gut. Mein Sohn besucht den Kindergarten. Mein Mann arbeitet. Anfang 2024 kam unsere Tochter zur Welt. Und ich lerne Deutsch. Sobald ich es gut genug kann, will ich eine Ausbildung machen, damit ich später in der Verwaltung arbeiten kann.
In Afghanistan hatte ich eigentlich vor, mich zur Richterin weiterbilden zu lassen. Doch die Taliban nahmen mir alles. Meine Heimat. Meine Familie. Die Berufung. Jetzt muss ich aus der Ferne verfolgen, wie die Rechte von Frauen dort mit Füßen getreten werden.
Was mir Hoffnung gibt: Zu sehen, wie die Frauen und Mädchen Afghanistans trotz allem rebellieren. Sie suchen Möglichkeiten, weiter zu lernen, zu arbeiten. Man sieht es nicht, aber sie leisten Widerstand, diese mutigen Kämpferinnen, die nicht akzeptieren, als Gefangene zu leben.