Portrait Sajia Begham

Sajia Behgam

Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Frankfurt University of Applied Science und frühere Advocacy-Koordinatorin bei medica mondiale in Afghanistan

Ich habe schon an vielen Orten unterrichtet: in Hörsälen der Universität Kabul, im Audimax der Frankfurt University of Applied Sciences und im Hinterhof meines Elternhauses. Ich habe Sechsjährigen das Rechnen beigebracht, 22-Jährigen die Grundlagen der Politikwissenschaft vermittelt und die Mitarbeitenden des afghanischen Premierministers davon überzeugt, dass Bildung unverzichtbar ist.   

Als die Taliban 1996 zum ersten Mal in Kabul einmarschierten, war ich in der achten Klasse. Meine Eltern schickten mich zu einem Onkel nach Masar-e Scharif. Die Region war damals noch in den Händen der Nordallianz, zu der sich mehrere Warlords zusammengeschlossen hatten. Deshalb konnten Mädchen dort die Schule besuchen. Vier Jahre später eroberten die Taliban Masar. Ich zog zurück zu meinen Eltern nach Kabul.  

Eine Nachbarin fragte mich: „Du bist so klug, könntest du meinen Kindern Unterricht geben?“ Also begann ich, mein Wissen im Geheimen weiterzugeben. Am Ende saßen 60 Schüler:innen auf den Teppichen im Hof meines Elternhauses. Von morgens fünf Uhr bis 17 Uhr am Nachmittag unterrichtete ich Mädchen und Jungen. Auf dem Stundenplan stand offiziell: der Koran.   

Ich war 18 Jahre alt und nicht bereit, die Hoffnung aufzugeben. Im Gegenteil: Ich wollte anderen Hoffnung geben.

Gemeinsam mit Gleichgesinnten gründete ich deshalb eine Jugendorganisation: das Youth and Children Development Program. Wir organisierten Bildungsveranstaltungen und gaben eine Zeitschrift heraus. Nach dem Sieg über die Taliban 2001 setzten wir uns zudem dafür ein, dass die Jahre in den Untergrundschulen anerkannt wurden, die Schüler:innen die Klassen also nicht wiederholen mussten.   

Ich lernte weiter, studierte an der Universität Kabul Jura und Politikwissenschaft. Neben dem Studium arbeitete ich bei medica mondiale in Afghanistan als Advocacy-Koordinatorin, unter anderem zu den gravierenden Folgen von Kinderverheiratungen für Mädchen. 2014 wurde ich Dozentin an der Universität Kabul, 2016 Beraterin für Frauen und Jugend im Büro des Premierministers. 2019 begann ich an der Universität Erfurt mit Forschungen für eine Doktorarbeit.  

Die Sicherheitslage in Afghanistan verschlechterte sich zusehends. Journalist:innen wurden attackiert, Aktivist:innen ermordet. Ich hatte ein ungutes Gefühl im Bauch, als ich im Mai 2021 von Erfurt nach Kabul flog, um meine Mutter zu besuchen. Meine beiden Kinder ließ ich bei meinem Mann in Deutschland.  

Eigentlich wäre ich am 1. Juli zurückgeflogen. Aber ich verschob den Flug. Ich machte mir Sorgen um die Sicherheit meiner Mutter, meiner Schwägerin und meiner Tante. Sie waren alle für internationale Organisationen tätig, hatten sich für freie Wahlen eingesetzt oder in Frauenhäusern gearbeitet. Am 14. August ließen sie Fotos machen, um Pässe zu beantragen. Am 15. August marschierten die Taliban in Kabul ein. Die nächsten Tage verbrachte ich mit der Suche nach Möglichkeiten, das Land zu verlassen. Über medica mondiale erhielten wir die erste Chance am 26. August. Morgens um 4 Uhr machte ich mich mit meiner Mutter und einigen ehemaligen Kolleginnen von Medica Afghanistan auf den Weg zum Flughafen.   

Sajias Flucht nach Deutschland

Route Map
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Kabul, Afghanistan
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Istanbul, Türkei (16.10.21)
flugzeug icon
München, Deutschland (16.10.21)

Wir warteten in den Bussen. Es wurde geschossen. Tränengaswolken hingen in der Luft. Kinder weinten.

Die ganze Zeit war ich per Telefon in Kontakt mit dem Piloten eines Flugzeugs aus Griechenland, das uns ausfliegen sollte. Aber es gelang uns nicht, in den Flughafen zu kommen. Gegen Mittag versuchten wir, Kontakt zu den deutschen Soldat:innen aufzunehmen. Eine Kollegin und ich verließen den Bus. Als wir beim Versuch, auf uns aufmerksam zu machen, eine Linie übertraten, schossen US-Soldat:innen auf den Boden vor unseren Füßen. Am späten Nachmittag sprengte sich in der Nähe ein Selbstmordattentäter in die Luft. Wir gaben auf und fuhren zurück ins Hotel. Das Flugzeug hob ohne uns ab.  

Kurz darauf wurde der Flughafen geschlossen. Erst im Oktober nahmen die ersten internationalen Airlines ihre Flüge wieder auf und ich konnte mit meinem deutschen Visum zurück zu meinen Kindern fliegen. Meine Mutter kam im März 2022 nach. Aber eine meiner Schwestern lebt noch immer in Afghanistan.  

Sajia Brustbild

Ich habe viel verloren: Meine Arbeit, meine Heimat, meinen gesellschaftlichen Status. Die Situation ist nicht leicht. Aber ich habe Menschlichkeit erfahren und anderen Menschlichkeit entgegengebracht. Das gibt mir die Kraft weiterzumachen.  

Mittlerweile habe ich das Thema meiner Doktorarbeit überarbeitet. Jetzt forsche ich zu Grenzen. Dabei geht es um Grenzen zwischen Ländern, aber auch um nicht-physische Grenzen: um fehlende Pässe, abgelaufene Visa, fremde Sprachen. Um soziale Codes und tiefsitzende Vorurteile. Viele dieser Grenzen habe ich selbst erlebt – und überwunden.  

Portrait Sajia Begham
Sajia Begham
Sajia Behgam (41) koordinierte die Advocacy-Arbeit von medica mondiale in Afghanistan und war lange als Dozentin an der Universität Kabul tätig. Seit August 2024 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Frankfurt University of Applied Sciences. Sajia Behgam berät Politiker:innen und Organisationen zu Frauen- und Menschenrechten. Bis 2019 war sie unter anderem Beraterin für Frauen und Jugend für das Büro des afghanischen Premierministers.