
Saina Hamidi
Psychologin und frühere psychosoziale Beraterin bei Medica Afghanistan
Content Warning: Sexualisierte Gewalt, Geburt. Geben Sie auf sich acht!
Was passiert beim Eisprung? Wieso bluten Frauen einmal im Monat? Das sind Themen, über die bei uns eigentlich nicht gesprochen wird. Nicht in der Schule und nicht in den Familien. Ich habe trotzdem darüber geredet.
Neben meiner Arbeit als psychosoziale Beraterin habe ich auf Facebook, Instagram und YouTube über den weiblichen Zyklus und Sexualität aufgeklärt. Ich wollte, dass Mädchen wissen, was in ihrem Körper vor sich geht. Denn Unwissenheit führt häufig zu gesundheitlichen Problemen.
Meine Familie stand hinter mir. Meine erste Videokamera war ein Geschenk meiner Brüder. Mein Aufklärungsbuch gab ich 2019 mithilfe meines Mannes heraus. Ich verteilte es auf der Straße – und drückte es auch Männern in die Hand, damit sie es zu Hause ihren Schwestern und Töchtern geben konnten. Als die Taliban kamen, bin ich verstummt. Seit ich denken kann, war ihre Brutalität Thema auf unseren Familientreffen. Die Angst vor ihnen ließ mich meine Videos löschen.
Am 14. August 2021 kam unser Sohn Hamza per Kaiserschnitt zur Welt. Ein neues Leben in einer Welt, die dem Ende nahe schien.
Einen Tag später kam eine Ärztin ins Zimmer und sagte: „Packen Sie Ihre Sachen, die Taliban sind in der Stadt.“
Wir waren gerade zu Hause angekommen, als die erste Nachricht von medica mondiale eintraf: „Fahrt zum Flughafen. Wir bringen euch raus.“ Wie packt man sein Leben in einen Rucksack? Ich nahm Kleidung, Windeln und Milchpulver für Hamza mit, dazu ein bisschen Wasser und Kekse. Und einen Lippenstift. Dann fuhren wir zum Flughafen. Die Straßen waren voller Taliban. Auf dem Weg erreichte mich die nächste Nachricht: „Der Flug klappt nicht, aber bleibt in der Nähe.“
Sainas Flucht nach Deutschland

Wir hatten Verwandte, die in der Gegend des Flughafens wohnen. Drei Tage aßen und schliefen wir im einzigen Zimmer der Familie. Dann entzündete sich meine Wunde und Hamza bekam eine Infektion. Wir fuhren ins nächste Krankenhaus. Es waren die schlimmsten Stunden meines Lebens. Zwei Nächte verbrachten wir auf Stühlen am Bett unseres Babys, der Infusionsschlauch riesig im Vergleich zu seiner kleinen Hand. Meine Wunde schmerzte. Und auf den Straßen patrouillierten die Taliban.
Als Hamza entlassen wurde, sind wir zurück in unsere Wohnung. Es war klar, dass die Evakuierung erst einmal nicht klappen würde. Kurz darauf zogen die USA ihre Truppen ab. An dem Tag war der Himmel voller Flugzeuge. Und als das letzte am Horizont verschwand, feuerten die Taliban in die Luft vor Freude über den Sieg. Kurz darauf begannen die Hausdurchsuchungen.
Sie nahmen Aktivistinnen mit, vergewaltigten sie. Sie warfen ihnen vor, gegen den Islam zu verstoßen. Aber wenn eine Frau um ihr Recht kämpft, verstößt sie nicht gegen den Islam.

Khadija, die Frau unseres Propheten, war eine erfolgreiche Geschäftsfrau. Sie lebte selbstbestimmt und reiste alleine.
Wir konnten nicht reisen. Mal fehlten die Visa, mal waren die Grenzen dicht. Wir verbrachten Nächte im Auto, in überfüllten Hotels, in der ständigen Hoffnung, einen Weg zu finden, das Land zu verlassen – und schafften es nicht.
Einmal zahlten wir 5.000 US-Dollar, um nach Pakistan zu kommen. Fünf Stunden fuhren wir zum Grenzübergang Torkham. 50.000 Menschen drängten dort gegen die Gitter. Als ich das sah, wollte ich wieder nach Hause. Erst kurz zuvor waren eine Frau und ein Kind in der Menge erdrückt worden. Trotz der Angst blieben wir und verbrachten die Nacht in einem schmutzigen Zimmer. Umsonst. Am nächsten Morgen sagte uns der Schleuser, es sei zu gefährlich, wir müssten umkehren.
Jeder Tag fühlte sich an wie ein Jahr. Ich bin alt geworden in dieser Zeit. Und gleichzeitig habe ich in den finsteren Monaten nach dem 15. August 2021 erlebt, was wahre Menschlichkeit bedeutet.
Im Dezember 2021 gelang es medica mondiale, für uns einen Flug nach Pakistan zu organisieren. Von dort ging es weiter nach Deutschland. Obwohl wir mitten in der Nacht in Leipzig ankamen, begrüßten uns viele Menschen. Sie hatten Spielsachen und Windeln, warme Kleidung und Binden dabei ... Es war überwältigend, wie diese Frauen und Männer versuchten, unseren Schmerz zu lindern.
Zwei Jahre lebten wir in einer Geflüchtetenunterkunft. Die Matratzen quietschten, die Küche war schmutzig, die Nachbar:innen laut. Aber das hatte keine Bedeutung. Wir waren in Sicherheit.
Einmal im Monat traf ich meine ehemaligen Kolleginnen. Wir lachten und weinten und tanzten. Dieses Zusammenstehen, dieses gemeinsame Nicht-Aufgeben hat mir sehr geholfen. 2023 gründeten wir Hami e. V. Medica Afghanistan war eine so wichtige Anlaufstelle für gewaltbetroffene Frauen. Mit Hami können wir an diese Arbeit anknüpfen und Frauen und Mädchen stärken.