Portrait Nasima Mirzada

Nasima Mirzada

Frühere Sozialarbeiterin bei Medica Afghanistan

24 Jahre lang habe ich mich im Norden Afghanistans für Frauenrechte eingesetzt. Als die Taliban zum ersten Mal über Afghanistan herrschten, brachte ich in meiner Heimatstadt Balkh an der Grenze zu Turkmenistan Frauen heimlich das Lesen und Schreiben bei.

Nach dem Sturz der Taliban 2001 arbeitete ich als Projektkoordinatorin und Sozialarbeiterin für internationale Organisationen. 2012 begann ich, für Medica Afghanistan zu arbeiten.  

Mehr als 1.000 Familien habe ich als Mediatorin begleitet, mehr als 600 Fälle von sexualisierter Gewalt betreut und 400 Frauen dabei unterstützt, ihre Tazkira, den afghanischen Personalausweis, zu erhalten. Mir ging es darum zu verstehen, was die Frauen brauchten, um ein selbstbestimmteres Leben führen zu können. Das war manchmal ein Kredit für die Eröffnung einer Nähwerkstatt sein oder ein Brunnen im Dorf, der ihnen stundenlanges Wasserschleppen ersparte. Ich arbeitete auch mit Frauenausschüssen, die ihre Belange auf die politische Agenda der Gemeinden brachten, oder führte Gespräche mit Familien, deren Tochter, Mutter, Tante … verhaftet worden war.  

Wo immer ich war, klärte ich Frauen und Mädchen über ihre Rechte auf: Du darfst dein eigenes Geld verdienen. Du hast das Recht zu studieren. Dir steht ein Erbe zu.

Wie viel Kraft gab es mir zu sehen, wenn sie anfingen, diese Rechte einzufordern. „Aha, wart ihr also wieder mal bei Medica“, sagten die Männer dann oft.  

Ein großer Teil meiner Arbeit in den vergangenen Jahren bestand darin, Frauen in Gefängnissen zu betreuen. Darunter junge Frauen, die angeklagt waren, außerehelichen Geschlechtsverkehr gehabt zu haben.  

Auf dem Papier galten für Männer und Frauen die gleichen Regeln. Aber es kam oft vor, dass die betreffenden Männer gar nicht erst verhaftet wurden. Oder sich freikaufen konnten. Mädchen dagegen erhielten nicht nur härtere Strafen. Sie wurden auch zu sogenannten Jungfräulichkeitstests gezwungen. Jahrelang kämpften wir für ein Ende dieser frauenverachtenden Prozedur, die jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehrt.  

Ich habe viele junge Frauen zu diesen gynäkologischen Zwangsuntersuchungen begleitet. Es war schrecklich erniedrigend. Im Laufe der Jahre erreichten wir immerhin kleine Verbesserungen für die Angeklagten, etwas mehr Rücksichtnahme, ein wenig mehr Respekt durch die Ärzt:innen.  

Einfach war die Arbeit nie. Immer wieder erhielten wir Drohanrufe von Männern, die aufgrund unseres Einsatzes verurteilt worden waren – oder einfach nicht damit einverstanden waren, dass wir uns für Frauenrechte einsetzten. Manchmal saß ich zitternd vor Angst am Schreibtisch. Mein Mann ist früh gestorben. Lange Jahre war ich allein für unsere sechs Kinder verantwortlich. Für unser Einkommen, unsere Sicherheit. Warum ich trotzdem weitergemacht habe? Weil ich finde, dass man gegen Ungerechtigkeit Widerstand leisten muss, auch wenn die Herausforderungen groß sind. 

Die Situation war damals schon schwer. Wie muss es den Frauen in Afghanistan heute gehen?  

Nasimas Flucht nach Deutschland

Route Map
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Balkh, Afghanistan
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Kabul, Afghanistan (15.08.21)
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Torkham, Afghanistan (12.11.21)
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Islamabad, Pakisten (12.11.21)
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Hannover, Deutschland (25.11.21)

Als die Taliban im Sommer 2021 immer mehr Gebiete eroberten, floh ich mit meinen beiden jüngsten Töchtern nach Kabul. Drei Monate später konnten wir über Islamabad nach Deutschland reisen. Zwei weitere Töchter lebten damals schon im Ausland. Aber eine Tochter und meinen Sohn musste ich in Afghanistan zurücklassen. Beide sind verheiratet. Die Vorgaben der deutschen Regierung erlaubten es deshalb zu diesem Zeitpunkt nicht, dass auch sie evakuiert wurden. Der Schmerz darüber ist groß. Manchmal fragen meine Enkelkinder in Afghanistan: „Oma, wann kommst du?“ Ich habe darauf keine Antwort.  

Irgendwann, so hoffe ich, wird mein Land wieder frei sein. Dann will ich zurückkehren. Zu meiner Familie, zu meiner Arbeit.

Nasima Brustbild

Bis dahin versuche ich, in Deutschland weiterzumachen. Ich habe an einem Aufbaustudium im Bereich Soziale Arbeit an der University of Applied Sciences in Frankfurt teilgenommen. Sobald mein Deutsch besser ist, möchte ich wieder als Mediatorin arbeiten.  

Meine Töchter haben sehr schnell Deutsch gelernt. Die Ältere fängt demnächst eine Ausbildung zur Zahnarzthelferin an. Die Jüngere hat sich gerade um einen Ausbildungsplatz bei der Stadt beworben.  

Gemeinsam engagieren wir uns ehrenamtlich als Integrationslotsinnen. Wir begleiten Geflüchtete zu ärztlichen Untersuchungen, informieren über Gesetze – und wie man richtig Müll trennt. Vor Kurzem kontaktierte mich die Stadtverwaltung wegen einer Frau, die zu Hause Gewalt erlebt. Und ich tat, was ich schon so oft getan habe: Ich hörte ihr zu, begleitete sie zu Terminen und informierte sie über Unterstützungsangebote. 

Dieser Frau und allen anderen wünsche ich: Lasst nicht zu, dass jemand sich euch in den Weg stellt. Lebt euer Leben – stolz und stark. 

Portrait Nasima Mirzada
Nasima Mirzada
Nasima Mirzada (54) setzte sich 24 Jahre in der Provinz Masar-e Scharif im Norden des Landes für Frauenrechte ein, neun Jahre davon als Sozialarbeiterin bei Medica Afghanistan in Balkh. 2023 nahm an der Frankfurt University of Applied Sciences an einem Aufbaustudium Soziale Arbeit teil. Nasima Mirzada möchte auch in Deutschland als Sozialarbeiterin arbeiten. Derzeit engagiert sie sich an ihrem Wohnort als Integrationslotsin.