Portrait Naija Niazi

Najia Niazi

Psychologin und frühere psychosoziale Beraterin bei Medica Afghanistan

Ich stand am Fenster unserer Wohnung und blickte auf Kabul. Von hier oben konnte ich über mein Viertel blicken. Ich sah die Pick-ups voller Taliban, hörte, wie sie in die Luft schossen, um ihren Sieg zu feiern. Ich war erstarrt vor Angst. „Das war’s“, dachte ich. „Jetzt ist alles, wofür wir gearbeitet haben, zerstört.“  

Ich war Psychologin bei Medica Afghanistan. Meine Kolleginnen und ich boten Frauen psychosoziale Beratung an, kostenlos und leicht zugänglich: Wir hatten Beratungszimmer in einer Frauenklinik und eine Anlaufstelle in einem Park. Wir hatten ein Containerbüro vor dem Frauenministerium errichtet und ein anderes im Hof des berüchtigten Gefängnisses Pul-e-Charkhi aufgestellt, um die Insassinnen psychosozial unterstützen zu können. Heute ist es Frauen verboten, in Parks zu gehen. Das Frauenministerium ist abgeschafft und das ganze Land ein einziges Frauengefängnis. 

Die erste Woche nach Einmarsch der Taliban verbrachte ich – wie so viele andere Kolleginnen – in der Nähe des Flughafens. Gemeinsam mit meinem Mann und unserem zweijährigen Sohn warteten wir in der Wohnung einer befreundeten Familie darauf, ausfliegen zu können. Wir schliefen kaum, aßen wenig, hofften, verloren die Hoffnung, hofften erneut.

Ich war im achten Monat schwanger. Ich hatte wahnsinnige Angst, dass der Stress dem Baby schaden könnte.

Mein Mann ließ sich nicht beirren: „Wir schaffen das.“ 

Und wir schafften es tatsächlich. Ein Geistlicher stellte uns für den 27. Oktober eine Geburtsurkunde aus. Mit dem Foto unseres Erstgeborenen beantragten wir damit einen Pass. Es kostete eine Menge Geld. Immer wieder war die Passbehörde geschlossen. Aber Mitte November hielten wir vier gültige Pässe in den Händen – und am 21. November unseren zweiten Sohn in den Armen. 26 Tage nach seiner Geburt flog ich mit ihm nach Pakistan.  

Drei Monate, nachdem die Taliban die Macht im Land an sich gerissen hatten, war ich allein mit meinem Neugeborenen in einem kleinen Hotelzimmer in Islamabad. Mein Mann hatte mit unserem älteren Sohn in Kabul bleiben müssen, weil wir kein Visum für das Kind erhalten hatten. Eine Woche lang fragte ich mich: „Wie weitermachen, wenn es nicht klappt?“ Sieben Tage, in denen ich zwischen der Erleichterung schwankte, aus Afghanistan entkommen zu sein, und der Verzweiflung, nicht zu wissen, ob wir mit der Trennung die richtige Entscheidung getroffen hatten.

Najias Flucht nach Deutschland

Route Map
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Kabul, Afghanistan
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Islamabad, Pakistan (17.12.21)
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Düsseldorf, Deutschland (06.01.22)

Aber auch mein Mann und unser Sohn schafften es sicher nach Islamabad und am 6. Januar 2022 landeten wir in Düsseldorf. In der Fremde. Aber alle zusammen und in Sicherheit. 

Die ersten Wochen in Deutschland verbrachten wir in einer Geflüchtetenunterkunft. Wir hatten Glück, es war eine gute Einrichtung mit Einkaufsmöglichkeiten in der Nähe und einer netten Heimleitung. Über sie fanden wir unsere jetzige Wohnung.  

Mittlerweile gehen beide Jungs in den Kindergarten. Ich habe mit einigen ehemaligen Kolleginnen an der Universität Frankfurt ein Aufbaustudium Soziale Arbeit absolviert und engagiere mich in einem Projekt von medica mondiale, durch das geflüchtete Afghan:innen und Aktivistinnen in Afghanistan psychosoziale Unterstützung erhalten. Noch immer berate ich Frauen in Afghanistan. Nur jetzt eben online. 

Die Frauen sind die treibenden Kräfte der Gesellschaft. Immer haben sich die Familien auf die Frauen gestützt. Weil sie die Fähigkeit haben, sich Herausforderungen zu stellen. Weil sie nach Fortschritt dürsten. Sie wollen weiterkommen – und wenn sie es geschafft haben, ziehen sie die anderen mit.  

Es tut unglaublich weh zu sehen, wie diese Frauen jetzt dazu gezwungen werden, nur noch Dienstleisterinnen für Männer zu sein, inhaftiert in ihren eigenen vier Wänden.  

Viele meiner Klientinnen waren bis 2021 berufstätig. Viele haben heute Selbstmordgedanken. „Wenn ich nicht Teil der Gesellschaft sein darf“, sagte vor Kurzem eine junge Frau zu mir, früher Jahrgangsbeste an der Uni, „wieso dann überhaupt leben?“ 

Portrait Naija Niazi
Najia Niazi
Najia Niazi (31) arbeitete bis 2021 als Psychologin bei Medica Afghanistan in Kabul. 2023 absolvierte sie ein Aufbaustudium Soziale Arbeit an der Frankfurt University of Applied Sciences. Najia Niazi engagierte sich zudem als psychosoziale Beraterin in einem Projekt von medica mondiale, das sich an Aktivist:innen in Afghanistan und geflüchtete Afghan:innen wendet, und unterstützt Frauen in Afghanistan weiterhin aus Deutschland – jetzt durch Online-Beratung.