Portrait von Maryam Amiri

Maryam Amiri*

Psychologin und frühere psychosoziale Beraterin bei Medica Afghanistan

Content Warning: Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt, Verbrennungen. Geben Sie auf sich acht!

Nie wieder Flüchtling. Das hatte ich mir geschworen, als wir 2004 – drei Jahre nach dem Sturz der Taliban – aus Iran in unsere Heimatstadt Herat zurückkehrten. Ich war so glücklich, wieder zu Hause zu sein.  

Ich bin die erste Frau in meiner Familie, die studieren konnte. Die Menschen in Herat sind sehr traditionell. Lehramt wäre noch in Ordnung gewesen, aber Psychologie? Meine Eltern standen zum Glück auf meiner Seite. Und so begann ich, nach dem Studium bei Medica Afghanistan zu arbeiten. 

Am 12. August 2021 schickten meine Eltern mich mit meiner Schwester nach Kabul. Sie hatten Angst um uns. Nur einen Tag nach unserer Flucht fiel Herat in die Hände der Taliban. Ich sah Videos davon. Sie kamen in Sandalen, auf Motorrädern, manchmal zu viert auf einem. Sie hatten keine schweren Waffen. Ich war mir sicher: In ein, zwei Tagen sind sie wieder weg. Bis heute begreife ich nicht, dass sie immer noch da sind.

Wie kann das sein? So viele internationale Institutionen, Soldat:innen, Nationen waren da – und über Nacht siegen die Taliban?  

Meine Schwester und ich verbrachten zwei Tage im Kabuler Büro von Medica Afghanistan. Danach zogen wir in ein Hotel – und die Taliban in die Stadt ein. Das Hotel wurde geschlossen und wir standen auf der Straße, allein. Zwei junge Frauen ohne Mahram, einen männlichen Verwandten, ohne den Frauen unter den Taliban das Haus nicht verlassen dürfen.  

Schließlich brachte uns der Bruder einer Freundin zu seiner Tante. In ihrem Haus gab es so viel Wärme und Liebe. Eine Atempause für uns. Aber eine kurze: Schon am Abend kam eine Nachricht des Büros: „Es gibt einen Flug, kommt ins Hotel.“  

Maryams Flucht nach Deutschland

Route Map
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Herat, Afghanistan
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Kabul, Afghanistan (12.08.21)
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Herat, Afghanistan (01.11.21)
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Maschad, Iran (12.09.22)
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Teheran, Iran (07.01.2023)
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Maschad, Iran (15.01.2023)
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Teheran, Iran (10.02.2023)
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Frankfurt, Deutschland (20.02.23)

Wir saßen neben gepackten Koffern, lebten von Wasser und Keksen und Hoffnung. Und warteten. Vergebens.

Ende August wurde der Flughafen geschlossen und wir zogen gemeinsam mit einigen Kolleg:innen in eine Wohnung. Im November konnten viele von uns über Pakistan ausreisen. Meine Schwester und ich aber hatten noch immer keinen Reisepass erhalten. Und ohne Pass gab es für uns keinen Weg außer Landes. Wieder waren wir allein: zwei junge Schiitinnen, mehr als 800 Kilometer weit weg von zu Hause. Da holte uns mein Vater zurück nach Herat.  

Dort zogen wir permanent um. Ein Nachbar hatte uns gewarnt: „Die Taliban suchen nach euch.“ 2019 hatte ich einer Frau geholfen, ihren gewalttätigen Mann – einen Talib – zu verlassen. Aber nicht alle Nachbar:innen standen uns bei. Im Gegenteil: Ein anderer schwärzte unsere Familie bei den Taliban an. „Das sind Schiiten, schlechte Muslime.“ Seine Frau hatte ich vor Jahren dabei unterstützt, ihn wegen Körperverletzung anzuklagen.  

Lange versuchten wir, Visa für eines der Nachbarländer zu erhalten. Aber erst im September 2022 konnten meine Schwester, meine Eltern und ich nach Iran ausreisen. Mein Bruder lebt bis heute in Herat. Er ist 33 Jahre alt. Sein Haar ist mittlerweile weiß.  

Für die Weiterreise nach Deutschland hätten wir über medica mondiale eigentlich problemlos Papiere bei der Deutschen Botschaft in Teheran beantragen können. Die aber war wegen der Proteste nach dem Tod von Jina Mahsa Amini geschlossen. Bis wir die nötigen Dokumente in der Hand hielten, waren unsere Visa abgelaufen. Uns drohte die Ausweisung nach Afghanistan. 

Für viel Geld kauften wir Kurzzeitvisa, die eigentlich zwei Wochen gültig sind. Warum unsere schon nach zwei Tagen abgelaufen waren, weiß ich bis heute nicht. Nie werde ich Inga, Vida und Bele von medica mondiale vergessen. Sie waren ständig in Kontakt mit uns. Ihnen habe ich zu verdanken, dass mich die Kraft nicht verließ.  

Brustbild Maryam Amiri

Und dann endlich war es so weit: Am 20. Februar 2023 sollten wir nach Deutschland fliegen. Ich hatte hohes Fieber. Wegen der abgelaufenen Visa mussten wir bei jeder Kontrolle diskutieren. Das dauerte so lange, dass wir am Ende fast den Flug verpasst hätten. Die letzten Meter sind wir gerannt.  

Als wir in Deutschland landeten, dachte ich: „Jetzt bist du also wieder ein Flüchtling.“ Im Jobcenter sagten sie, ich könne nicht studieren und wieder als Psychologin arbeiten. Ich solle lieber eine Ausbildung machen. Vielleicht dachten sie, ich sei ungebildet. Dabei hatte ich so sehr um mein Studium gekämpft.  

Wenn ich zurückdenke ... Ich war so stark. Ich betreute Frauen, die von ihren Ehemännern angezündet worden waren, Frauen, deren Haut zu 80 Prozent verbrannt war. Ich ging in Gefängnisse, bot den Taliban die Stirn.  

Und heute? Heute suche ich diese alte Stärke und klammere mich an die Hoffnung. An die Hoffnung, dass wir eines Tages nach Afghanistan zurückkehren. Dass wir ein gutes Leben führen und unser Land aufbauen. Groß ist sie nicht, die Hoffnung. Aber ohne Hoffnung kann man nicht leben. 

Portrait Maryam Amiri
Maryam Amiri*
Maryam Amiri* (29) ist Psychologin. Bei Medica Afghanistan unterstützte sie bis 2021 gewaltbetroffene Frauen in Herat, der zweitgrößten Stadt Afghanistans. Sie hat vor, in Deutschland wieder in ihrem Berufsfeld zu arbeiten. Sie möchte sich weiterbilden und später Geflüchtete und Migrant:innen beraten.

*Aus Sicherheitsgründen wurde der Name geändert.