
Kreshma Azizi
Ambulante Betreuungskraft in Ausbildung und frühere Buchhalterin bei Medica Afghanistan
Leben, das heißt für mich: wirksam sein mit den Talenten, die mir gegeben sind. Bei Medica Afghanistan habe ich gelernt, anderen zur Seite zu stehen. Und dank medica mondiale kann ich das immer noch tun. Ich kann wachsen und meinen Träumen folgen. Ich kann wirksam sein. Dafür bin ich Deutschland sehr dankbar, denn in Afghanistan wäre das momentan nicht möglich.
Ich habe als Finanzassistentin und Rechnungsprüferin gearbeitet. Zuletzt bei Medica Afghanistan. Am Tag, als Kabul in die Hände der Taliban fiel, saß ich am Schreibtisch – in engen Hosen und High Heels. Ich konnte nicht fassen, dass sie die Stadt eingenommen hatten. Selbst als ich zu Hause war und vom Fenster unserer Wohnung im dritten Stock die Kämpfer durch die Straßen patrouillieren sah, wollte ich es nicht glauben. Aber sie waren da. Sie blieben. Und wir mussten gehen.
Kurz nach dem Einmarsch erhielt ich einen Anruf aus dem Büro. „Wir versuchen, eure Ausreise zu organisieren. Du kannst eine weitere Person mitnehmen“, sagte man mir. Ich war verlobt, bat aber, meinen Vater auf die Liste zu setzen. Er war als Offizier der afghanischen Armee in der Provinz Kandahar stationiert gewesen und daher in Gefahr.
Am 15. August verabschiedeten wir uns von meiner Mutter und meinem Bruder – mein Verlobter war zu dem Zeitpunkt nicht in Kabul – und gingen ins Hotel, um gemeinsam mit meinen Kolleg:innen und ihren Familien auf den Abflug zu warten. Am 26. August fuhren wir mit vier Bussen zum Flughafen. Es war damals der einzige Weg, aus dem Land zu kommen. Aber er war versperrt. Tausende Menschen versuchten, in den Flughafen zu gelangen. Es herrschte Chaos. Den ganzen Tag warteten wir im heißen Bus, ohne Toilette, mit alten Menschen und kleinen Kindern. Immer wieder fielen Schüsse. Am späten Nachmittag sprengte sich ein Selbstmordattentäter in die Luft. Wir gaben auf. Vier Tage später zogen die letzten US-Soldat:innen ab. Die Taliban hatten endgültig gesiegt.
Am 1. November wurde mein Vater auf offener Straße erschossen. Mehr als drei Jahre ist es jetzt her. Ich weiß nicht, wann der Schmerz nachlassen wird.
Damals stand ich unter Schock. Im September hatte mein Verlobter es geschafft, von Faryab, einer Provinz im Norden Afghanistans, nach Kabul zu kommen. Er bekam den Platz, der mit dem Tod meines Vaters frei geworden war. Wir heirateten, und zwei Wochen nach der Ermordung meines Vaters gelang uns mit Unterstützung von medica mondiale die Flucht nach Pakistan.
Kreshmas Flucht nach Deutschland

Im Dezember flogen wir weiter nach Hannover. Ich saß neben meinem Mann und dachte: „Jetzt ist es so weit. Jetzt beginnt ein neues Leben.“
Zehn Tage nach unserer Ankunft stellte ich fest, dass ich schwanger war. Ich schluckte meinen Schmerz herunter und verdrängte die Sorge um meine Familie in Kabul. Ich musste stark sein für unser Baby.
Meine Mutter und mein Bruder können demnächst nach Neuseeland ausreisen. Aber meine Schwester ist noch immer in Afghanistan. Ihr Mann ist drogenabhängig. Er behandelt sie und die Kinder sehr schlecht. Würde sie ihn verlassen, würden sie ihr die Kinder nehmen. Ihr Schwiegervater hat enge Beziehungen zum Taliban-Regime. Ich habe ihr geraten, sich Hilfe zu suchen. Aber es gibt keine Anlaufstellen mehr für gewaltbetroffene Frauen. Meine Schwester ist doch auch ein Mensch. Sie hat doch verdient, auch als solcher behandelt zu werden. Manchmal will ich mich auf meine Ausbildung konzentrieren, auf meinen Deutschkurs ... Dann kommen die Sorgen dazwischen und lassen kaum Platz für andere Gedanken.

Das Jobcenter hatte vorgeschlagen, ich könnte als Verkäuferin arbeiten. Aber ich wollte Menschen beistehen, die Unterstützung benötigen. Deshalb habe ich mir selbst einen Ausbildungsplatz zur ambulanten Pflegehelferin organisiert. Es macht mich sehr glücklich, dass ich diese Arbeit machen kann.
Deutschland bedeutet für mich Freiheit. Als ich mit meiner Tochter schwanger war, taten mir oft die Füße weh. Deshalb setzte ich mich hin, egal wo ich war, auf Bänke, Stühle, Mauern, Böden ... Niemand störte sich daran. Auch ob ich Kopftuch trage oder nicht, ist meine eigene Entscheidung. Das ist Freiheit für mich: zu tun, was ich möchte, solange ich mit meinem Verhalten niemandem schade. Dazu zählt auch, den Führerschein zu machen.
Die Prüfung habe ich im November bestanden. Bis 1958 brauchten Frauen in Westdeutschland die Erlaubnis ihrer Ehemänner, um Autofahren lernen zu können. Aber die Frauen in Deutschland haben es geschafft, diese Diskriminierung zu überwinden. Wie sehr ich hoffe, dass den Menschen in Afghanistan Ähnliches gelingt.