Portrait Kamila Gulchin

Kamila Gulchin

Juristin und frühere Strafverteidigerin bei Medica Afghanistan

Mein älterer Bruder war wie ein starker Fels für mich, eine große Kraft, die immer hinter mir stand. Eines Morgens im Mai 2019 weckte er mich: „Komm, wir müssen zur Arbeit.“ Er war Arzt in einem Krankenhaus. Ich hatte gerade bei Medica Afghanistan als Anwältin angefangen. Es war das letzte Mal, dass er mich weckte.  

Noch am selben Tag erlitt er während der Arbeit einen Herzinfarkt. Von nun an war ich für seine Frau und die drei Kinder verantwortlich. Das hatte ich ihm kurz vor seinem Tod noch versprochen.

Der Verlust meines Bruders traf mich tief. Aber ich war stark damals. Ich war es gewohnt zu kämpfen. 

Aufgewachsen bin ich in Pol-e Khomri, der Hauptstadt der Provinz Baghlan im Nordosten Afghanistans. Der Einfluss der Taliban war dort groß. Von klein auf kämpfte ich gegen den Druck der konservativen Gesellschaft. Mädchen sollten nicht auf die Straße gehen. Mädchen sollten nicht zur Schule gehen. Mädchen sollten bestimmte Kleidung tragen. Meine Mutter war Lehrerin. Sie unterstützte mich sehr. Trotzdem war da diese ständige Angst, die Schule – und später die Universität – könnte uns Mädchen vom Unterricht ausschließen. 

Die Angst blieb auch im Arbeitsleben meine Begleiterin. Gemeinsam mit einer Kollegin unterstützte ich in Baghlan gewaltbetroffene Frauen. Es gab viel Gewalt durch Ehemänner, aber auch durch die Schwiegerfamilien. Wir versuchten, die Konflikte in Gesprächen zu lösen. Gelang es nicht, vertrat ich die Frau vor Gericht.  

Anfeindungen gehörten zu meinem Alltag. Regelmäßig versuchten Männer, mich auf dem Weg zu einer Verhandlung zu schlagen. Oder sie drohten am Telefon: „Ich lass dich verschwinden.“ Das hielt mich nicht davon ab, meine Arbeit zu tun.

Ich wollte meine Fähigkeiten für mein Land und seine Frauen einsetzen. Denn täglich konnte ich sehen, welch extremer Ungerechtigkeit Afghaninnen ausgesetzt waren. Das wollte ich nicht einfach hinnehmen.  

Am 10. August war ich noch nicht lange von der Arbeit zu Hause, als ich gegen Abend laute Rufe auf den Straßen hörte. Die Taliban waren in der Stadt. Innerhalb von Stunden wurde die Angst übermächtig. Und ich machtlos. 

Wenige Tage später erhielt ich einen Anruf. Den Ersten von vielen. „Sind Sie Kamila Gulchin?“, fragte eine Männerstimme. Ich müsse mich bei der Amr-bil-Maruf, der Religionspolizei, melden. Natürlich ging ich nicht. Aber als der Mullah meiner Moschee die gleiche Nachricht erhielt, flüchtete ich gemeinsam mit meiner Mutter nach Kabul. Hier lebte mein Verlobter. Hier suchte medica mondiale nach Möglichkeiten, uns zu evakuieren.  

Kamilas Flucht nach Deutschland

Route Map
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Pol-e Khomri, Baghlan, Afghanistan
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Kabul, Afghanistan (15.08.21)
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Katar, Doha (10.11.21)
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Hannover, Deutschland (23.11.21)

Vier Monate blieben wir in der Hauptstadt. Sie kamen mir vor wie vier Jahre. Bittere Jahre voller Angst. Angst vor dem ersten Tageslicht. Angst vor dem Sterben. Angst davor, dass sie meiner Mutter etwas antun. 

Dazwischen immer wieder enttäuschte Hoffnungen. Mal hieß es: Wir werden evakuiert. Dann wieder: Es klappt nicht. Dann: Wir müssen allein ausreisen. Später: Alleinstehende dürften eine Person mitnehmen. Wie sollte ich wählen zwischen meinem Verlobten und meiner Mutter? Am Ende hatte ich Glück. Beide konnten mit nach Deutschland. Über Katar flogen wir im November 2021 nach Hannover.  

Wie ich mir wünsche, man könnte Erinnerungen löschen. Dann würde ich die schmerzlichen Gedanken an den Tod meines Bruders aus meinem Kopf verbannen. Und die Erinnerungen an den August 2021.  

Kamila Brustbild

Mein Leben lang hatte ich gekämpft – und alles verloren. Meine Heimat. Meine Familie. Mich selbst. Die Freude, die ich im Flugzeug empfand, fühlte sich an wie Verrat. Ich flog in ein sicheres Land und ließ meine Schwägerin und ihre Kinder zurück, trotz des Versprechens, das ich meinem verstorbenen Bruder gegeben hatte.  

Drei Jahre sind wir nun in Deutschland. Doch in den Nächten kehrt die Angst zurück und ich bin wieder in Afghanistan, in jenem Sommer 2021. Wenn ich aufwache, durchflutet mich Erleichterung, weil ich weiß: Noch einmal würde ich diese Situation nicht überleben. Selbst in meinen Träumen fehlt mir die Kraft dazu. 

Seit einigen Monaten aber fühle ich, wie meine alte Stärke zurückkehrt und langsam beginnt, die Angst zu verdrängen. Mein Jurastudium wurde als Bachelor anerkannt. Sobald ich meine C1-Deutsch-Prüfung habe, könnte ich einen Master of Law machen und wieder in der Rechtsberatung arbeiten. Vielleicht mache ich aber auch eine Weiterbildung als Mediatorin. Ich habe mich noch nicht entschieden. Aber ich habe wieder Ziele und weiß, dass ich sie erreichen kann. 

Portrait Kamila Gulchin
Kamila Gulchin
Kamila Gulchin (32) ist Juristin. Von 2019 bis 2021 arbeitete sie als Strafverteidigerin in der Provinz Baghlan im Nordosten Afghanistans bei Medica Afghanistan. Sie plant, in Deutschland als Juristin oder in der Mediation zu arbeiten.