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01. November 2024 - Meldung

Stimmen verstummen, Rechte werden ignoriert: Wie das sog. "Tugendgesetz" der Taliban Frauenrechte in Afghanistan massiv angreift

Seit ihrer Rückkehr an die Macht setzen die Taliban zunehmend Gesetze um, die die Rechte von Frauen und Mädchen in Afghanistan drastisch einschränken. Mit dem neuen sogenannten „Tugendgesetz“ erreicht diese Unterdrückung einen neuen Höhepunkt: Frauen dürfen kaum noch das Haus verlassen, ihre Stimmen werden aus der Öffentlichkeit verbannt und ihre Bewegungsfreiheit ist nahezu aufgehoben. Doch was bedeutet dieses Gesetz konkret für das tägliche Leben der Frauen? Welche Folgen hat es für unsere Partnerorganisationen und welche Chancen bleiben für afghanische Frauen? Lesen Sie hier, welche verheerenden Auswirkungen das Gesetz auf Frauenrechte in Afghanistan hat – und was jetzt getan werden muss.

1. Was bedeutet das neue „Tugendgesetz“ für Frauen in Afghanistan? 

Das neue Gesetz geht weit über frühere Dekrete hinaus und hat den Status eines bindenden Gesetzes erreicht. Die Bestimmungen erstrecken sich auf alle Lebensbereiche und betreffen nicht nur den privaten Raum, sondern auch den Zugang zu Bildung, Arbeit und Gesundheitsversorgung. Dies führt dazu, dass Frauen zunehmend isoliert und von wichtigen Ressourcen abgeschnitten werden. 

“Die Verletzung von Frauenrechten ist in Afghanistan nicht neu, aber dieses Gesetz ist das gefährlichste, das in Afghanistan jemals umgesetzt wurde.”

- Afghanische Partnerin, die aus Sicherheitsgründen anonym bleiben muss 

So verpflichtet das von den Taliban als „Tugendgesetz“ bezeichnete Gesetz in Afghanistan Frauen, ihren gesamten Körper, einschließlich ihres Gesichts, zu verschleiern und schränkt ihre Bewegungsfreiheit erheblich ein. Frauen dürfen das Haus nur in Begleitung eines männlichen Verwandten (Mahram) verlassen und werden dadurch – wie bereits befürchtet – zu Gefangenen in ihrem eigenen Zuhause. Insbesondere verbietet das Gesetz Frauen, ihre Stimme in der Öffentlichkeit zu erheben, sei es durch Sprechen, Singen oder andere Ausdrucksformen. Seit Neuestem dürfen Frauen nicht einmal mehr in ihrem eigenen Zuhause laut beten – selbst nicht im Beisein anderer Frauen. Sie haben nur eingeschränkten Zugang zu medizinischer Versorgung. Wenn der behandelnde Arzt männlich ist und kein Mahram anwesend ist, dürfen sie den Arzt oft nicht aufsuchen. Auch die weiblichen Angehörigen männlicher Patienten dürfen diese im Krankenhaus nicht besuchen. Das führt dazu, dass Frauen oft keine angemessene medizinische Hilfe erhalten und ihre Gesundheit ernsthaft gefährdet wird.

2. Wie wird das Gesetz umgesetzt? 

Die Durchsetzung des Gesetzes hat bereits begonnen, wie aus Berichten verschiedener Regionen hervorgeht. In einigen Distrikten wird Frauen schon jetzt verboten, ohne Mahram öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Die Bestrafungsmethoden für Frauen, die gegen das neue Tugendgesetz der Taliban verstoßen, sind hart und werden oft willkürlich verhängt. Zu den Strafen gehören: 

  1. Verwarnungen: Leichte Verstöße können mit mündlichen oder schriftlichen Verwarnungen geahndet werden. 

  2. Geldstrafen: Frauen können bei Verstößen gegen das Gesetz zu Geldstrafen verpflichtet werden. 

  3. Inhaftierung: Schwere Verstöße oder wiederholtes Missachten des Gesetzes führen zu Gefängnisstrafen. 

  4. Körperliche Strafen: In einigen Fällen, besonders bei als „unmoralisch“ angesehenen Taten wie Ehebruch oder unbegleitetem Aufenthalt in der Öffentlichkeit, drohen harte körperliche Strafen, einschließlich Prügelstrafen. 

  5. Sofortige Bestrafung auf der Straße: Inspektoren der Taliban ahnden Verstöße sofort, ohne dass eine Untersuchung oder ein Gerichtsverfahren stattfindet. 

Die Strafen werden nach dem Ermessen der Inspektoren und basierend auf den Vorstellungen der Scharia verhängt, was Frauen oft jegliche Möglichkeit zur Verteidigung nimmt. Männer sind ebenfalls betroffen, da ihnen das Rasieren des Bartes untersagt wird und Verstöße gegen das Gesetz auch in Moscheen öffentlich angeprangert werden. 

3. Welche Auswirkungen hat das Gesetz auf Projekte und Organisationen? 

Für unsere Partnerorganisationen Medica Afghanistan und Hami hat das neue Gesetz schwerwiegende Folgen. Das Wirtschaftsministerium hat bereits Maßnahmen ergriffen, um Projekte mit Bezug zu Frauen und Frauenrechten zu blockieren. Frauenrechtsorganisationen stehen unter immensem Druck. Viele Projekte müssen umgestaltet werden, um den neuen Regeln zu entsprechen. Beispielsweise wurden Organisationen aufgefordert, Begriffe wie „Frauen“ aus ihren Namen und Projekten zu entfernen. Die Arbeit in gemischten Teams wird immer schwieriger. 

“Wenn ich den Namen und den Inhalt der Organisation ändern und nur noch Männer arbeiten lassen darf, kann ich die Organisation direkt aufgeben.”

- Afghanische Partnerin, die aus Sicherheitsgründen anonym bleiben muss 

4. Welche Unterstützung benötigen Frauen in Afghanistan jetzt? 

Die Lage ist besorgniserregend. Frauen vor Ort fordern verstärkte Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft. Dringend benötigt werden psychosoziale und gesundheitliche Unterstützung, um den täglichen Druck und das Trauma zu bewältigen. Zudem müssen Bildungs- und Stipendienprogramme, die Mädchen und Frauen zusammen mit einem männlichen Verwandten ermöglichen, im Ausland zu studieren, ausgebaut werden. Auch rechtliche Aufklärung und mediale Kampagnen, die auf die Situation der Frauen aufmerksam machen, sind entscheidend. 

“Wenn es in meiner Macht stünde, würde ich alle Frauen in Afghanistan auf der Stelle evakuieren.”

- Afghanische Partnerin, die aus Sicherheitsgründen anonym bleiben muss 

Fazit: Ein Rückschritt in die 1990er Jahre 

Das neue „Tugendgesetz“ verstärkt patriarchale Strukturen und schränkt Frauenrechte massiv ein. Es droht, Frauen dauerhaft von der Gesellschaft auszuschließen und ihre Grundrechte weiter zu untergraben. Damit markiert es einen Rückschritt zu den repressiven Maßnahmen der Taliban aus den 1990er Jahren. Die immer neuen Erlässe sind an Menschenverachtung kaum noch zu übertreffen. Abscheulich die perverse Sorgfalt, mit der Männer hier Frauen selbst die letzten persönlichen Freiheiten und Spielräume zu nehmen suchen. Mit denen sie versuchen, sie zum Schweigen zu bringenFür uns alle ist das ein dringender Appell: Wenn die Taliban Frauen in Afghanistan verstummen lassen wollen, dann müssen wir hier umso lauter werden. 

Internationale Organisationen und Staaten müssen dringend Wege finden, um afghanische Frauen zu unterstützen und vor weiterer Unterdrückung zu schützen. Die afghanischen Frauen, die trotz aller Widrigkeiten für ihre Rechte kämpfen, verdienen unsere Solidarität und Unterstützung, um gegen dieses patriarchale und unmenschliche Regime bestehen zu können. 

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