Sie sagen laut nein: Wie Serbiens junge Generation das Schweigen bricht
Seit einem Jahr gehen in ganz Serbien vor allem junge Menschen auf die Straße. Auslöser der Proteste war der Einsturz des Vordachs einer Bahnhofshalle in Novi Sad im November 2024, bei dem 16 Menschen starben. Dalia Koler von unserer Partnerorganisation Youth Initiative for Human Rights (YIHR) in Belgrad gehört zu den feministischen Stimmen, die sich dem Protest angeschlossen haben. Sie beobachtet, wie sich der Protest zu einer breiten Bewegung gegen Missmanagement und Korruption entwickelt hat. Dabei kritisiert sie das Vorgehen der Regierung gegen die Protestierenden und beschreibt ein seit Jahren andauerndes Muster der Repressionen gegen Zivilgesellschaft und insbesondere gegen Frauenrechtsorganisationen.
Was ist das Ziel der Proteste?
Die Proteste begannen mit einer einfachen Forderung: Verantwortung für den Einsturz der Bahnhofshalle in Novi Sad am 1. November 2024. Doch anstatt Maßnahmen zu ergreifen, reagierte die Regierung mit verfälschten Darstellungen und gewaltsamen Übergriffen auf friedliche Protestierende. Inzwischen geht es bei den Protesten längst nicht mehr nur um das eingestürzte Vordach. Es ist ein Protest für systemischen Wandel – für ein Serbien, in dem die Regierung sich gegenüber den Bürger:innen verantwortet und nicht umgekehrt.
Wie ist die aktuelle Situation für zivilgesellschaftliche Organisationen und insbesondere für Frauenrechtsorganisationen in Serbien?
Frauenrechtsorganisationen stellen die tief patriarchalen Strukturen und nationalistischen Mythen in Frage, mit denen sich die Regierung legitimiert. Damit werden sie zu einer direkten Bedrohung der Machtstrukturen: nicht durch Gewalt, sondern durch Ideen.
Alle zivilgesellschaftlichen Organisationen in Serbien, insbesondere Frauenrechtsorganisationen, stehen unter anhaltendem, koordiniertem Druck der Regierung. Das hat nicht erst mit den Protesten begonnen, sondern ist Teil eines viel älteren Musters. Seit Jahren versucht die Regierung, Organisationen zu delegitimieren, die sich mit „sensiblen“ Themen befassen: Vergangenheitsbewältigung, Einsatz für Frauenrechte und Unterstützung von LGBTQ+-Rechten.
Wie wirkt sich die aktuelle Situation – die Proteste und ihre Unterdrückung – auf die Arbeit von YIHR aus?
Wir werden sowohl als Organisation als auch als Einzelpersonen ins Visier genommen. Allein im vergangenen Jahr mussten wir Festivalverbote hinnehmen, uns wurden Schweineköpfe und andere Tierkadaver ins Büro geliefert, sensible persönliche Daten wie Teilnahmelisten wurden veröffentlicht , Grenzbeamte hinderten Kolleg:innen an der Ausreise, Boulevardjournalist:innen spionierten unsere Arbeit aus, es gab mediale Diffamierungskampagnen. Als Konsequenz mussteneinige Aktivist:innen ins politische Exil gehen.
Während der aktuellen Proteste haben sich diese Angriffe noch verschärft. Wir mussten unsere Programme an die neue Realität anpassen und konzentrieren uns nun auf das Wissen und die Fähigkeiten, die in dieser Situation am dringendsten gebraucht werden – etwa darauf, aktuelle Ereignisse im historischen Kontext der 1990er Jahre zu verstehen. Je mehr sich junge Menschen politisch engagieren, desto stärker erkennen sie, wie die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit die Gegenwart und Zukunft prägt. Unser Bildungsansatz verknüpft heutiges Engagement ausdrücklich mit Vergangenheitsarbeit, historischem Gedächtnis und systemischer Rechenschaft.
Wie wirkt sich die aktuelle Situation auf Frauenrechte und das Thema Gewalt gegen Frauen aus?
Das derzeitige Klima in Serbien macht das Leben für Frauen zunehmend gefährlich. Die Zahl der Femizide steigt, und anstatt Frauen besser zu schützen, schlägt die Regierung Gesetze vor, die Vergewaltigung als „nicht einvernehmliche Affäre“ neu definieren, wobei das Ausmaß des Übergriffs davon abhängen soll, wie laut eine Frau „Nein“ sagt. Doch immer mehr junge Menschen werden laut und trauen sich, Ungerechtigkeit zu benennen. Sie sehen, dass die heutige Gewalt mit der Straflosigkeit der 1990er Jahre zusammenhängt und verstehen, dass Schweigen – ob über Kriegsverbrechen oder geschlechtsspezifische Gewalt – nur die Täter schützt. In einem Land, in dem Institutionen über die Lautstärke des „Nein“ diskutieren, lernt die neue Generation endlich, es lauter denn je zu sagen.