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12. Mai 2022 - Meldung

Serbien: Raus aus der patriarchalen Tradition

Mehr als 58 Prozent der Romnija in Serbien werden vor ihrem 18. Geburtstag verheiratet. Roma Novi Bećej (ARNB) ist eine Partnerorganisation von medica mondiale und engagiert sich gegen Zwangs- und Frühverheiratungen unter Roma-Frauen. Immer wieder sind auch die Mitarbeiterinnen selbst Anfeindungen und Diskriminierungen ausgesetzt.

Kampagnen-Flyer von ARNB gegen Kinderheirat
ARNB macht mit einer Kampagne auf das Problem von Frühverheiratungen aufmerksam: Die patriarchale Praxis muss in der gesamten Gesellschaft wahrgenommen werden.

Seit sie sechs Jahre alt ist, wird sie von ihrem Vater belästigt. Als sie zwölf Jahre alt ist, vergewaltigt er sie zum ersten Mal. Ein Versuch, den Vater anzuzeigen, endet mit seiner Freilassung. Die heute 17-jährige flieht zu ihrer Cousine, mit der sie sich jedoch nicht gut versteht und die ihr verbietet, sich mit anderen zu treffen.

Unsere Partnerorganisation Roma Novi Bećej (ARNB) hört immer wieder solche Geschichten, die von Gewalt geprägt sind – und die zeigen, wie sehr Frauen und Mädchen oft allein gelassen werden, wie wenig Unterstützung sie erhalten.

Roma Novi Bećej klärt über sexualisierte Gewalt und patriarchale Praxis auf

ARNB bedient eine Notfall-Hotline in drei Sprachen. Hilfesuchende können dort anrufen oder über einen Chat-Dienst Kontakt aufnehmen. Mit Beginn der Corona-Pandemie haben die Anfragen zugenommen. Mehr als ein Jahr erhielt ARNB fast jeden Tag einen Hilferuf. Viele der Frauen, die sich dort melden, sind unter 18 Jahre alt. ARNB engagiert sich gegen sexualisierte Gewalt, häusliche Gewalt und gegen Kinderheiraten. Sie wollen erreichen, dass die Verheiratung von Minderjährigen nicht mehr als Roma-Tradition wahrgenommen werden, sondern als patriarchale Praxis.

Politische Arbeit: gegen Kinderheirat und Diskriminierung von Roma-Frauen

Die Organisation vernetzt sich mit Behörden, um gegen Frühverheiratungen, die teilweise schon 12-Jährige betreffen, zu intervenieren. Sie klären auf – und müssen sich selbst gegen Geringschätzung wehren. Roma werden in Serbien oft diskriminiert oder respektlos behandelt.

ARNB versucht, gegen diese Kultur anzukämpfen. Zum einen betreibt die Organisation Krisenzentren für von sexualisierter Gewalt und Vergewaltigung betroffene Frauen. Zum anderen unterstützen die Mitarbeitenden junge Romnija und betreiben Lobby-Arbeit bei Institutionen, um Gesetze zu beeinflussen. Diese Verbindung von Praxiserfahrung und politischer Arbeit ist selten und gerade in diesem Fall sehr wichtig.

„Wir erleben immer wieder Widerstände aus der Gemeinschaft gegen unseren Einsatz gegen Kinderheiraten: verbale Drohungen von männlichen Gemeindevorstehern, Väter, die ihren Töchtern nicht erlauben, an unseren Veranstaltungen teilzunehmen, und ähnliches”,

berichtet Danica Jovanović, die Leiterin der Organisation.

„Wir müssen uns weiterhin bemühen, unsere Zielgruppe gut zu erreichen, die Pandemie macht das leider nicht einfacher. Dass wir feministisch sind und explizit auch lesbische und queere Roma ansprechen, macht uns oft zur Zielscheibe.“

Rechtsberatung, Aufklärung und psychosoziale Unterstützung für betroffene Frauen und Mädchen

So engagiert sich ARNB auch konkret für die Rechte der Roma-Frauen: Im Rahmen einer Rechtsberatung gehen sie mit den Mädchen vor Gericht, erstatten Anzeige oder bieten Psychotherapie an. Ein großer Teil der Arbeit betrifft aber eines: Aufklärung. Die minderjährigen Klientinnen sollen verstehen, dass Frühverheiratung problematisch ist und was das für Folgen für ihr Leben haben kann.

So können Fälle wie der des 17-jährigen Mädchen, das von ihrem Vater belästigt und vergewaltigt wurde, doch noch eine glückliche Wendung nehmen: Die junge Frau verließ mit Unterstützung von ARNB ihre Eltern und kam bei ihrem Onkel unter, der den Fall bemerkt hatte. Sie erhielt psychologische Hilfe und kann jetzt wieder Hoffnung schöpfen.

Erschienen im memo 2022/1