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26. April 2023 - Interview

Evaluationen bei medica mondiale: Tun wir das Richtige richtig?

Evaluationen messen nicht nur den Erfolg von Projekten. Sie können auch empowern. Wie das funktioniert und wie wichtig Evaluationen für die Arbeit von medica mondiale sind, berichtet Kirsten Wienberg, Bereichsleiterin Evaluation und Qualität.

Eine Frau mit dunkler Jacke und Brille steht auf einer Dachterrasse mit Kölner Dom im Hintergrund. Portraitfoto von Kirsten Wienberg, Stabsstelle Evaluation und Qualität bei medica mondiale.
Kirsten Wienberg leitet bei medica mondiale den Bereich Evaluation und Qualität.

Kirsten, Evaluation hat bei medica mondiale einen hohen Stellenwert. Wieso?

Zum einen müssen wir natürlich unseren Spender:innen und Geldgeber:innen transparent nachweisen können, wie genau wir ihr Geld einsetzen. Das tun wir durch permanentes Monitoring während der einzelnen Projektphasen und durch Evaluation des Gesamtprojekts am Ende. Zum anderen begreifen wir uns als lernende Organisation. Wir wollen prüfen: Welche Wirkung haben unsere Projekte? Sind wir auf dem richtigen Weg? Tun wir das Richtige richtig? Die Antworten fließen dann zurück in die Projektarbeit.

Wie bezieht medica mondiale Partnerorganisationen in die Evaluation mit ein?

Unsere Partnerorganisationen können von Anfang an die Evaluationsprozesse mitgestalten. Auch Überlebende beziehen wir mit ein. Diese Erfahrung von Selbstwirksamkeit kann einen unglaublich stärkenden Effekt haben. Die Partizipation beginnt bei der Projektentwicklung und ist Teil der Evaluation am Ende, wann immer es möglich ist.

Wie läuft so eine partizipative Evaluation ab?

In Liberia haben wir zum Beispiel Frauen gebeten, Fotos zu machen von Orten, an denen sie sich sicher fühlen, und von Orten, an denen sie sich unsicher fühlen. Die Ergebnisse haben wir hinterher gemeinsam besprochen. Sie flossen später in die Programmgestaltung ein. Ein anderes Beispiel ist unsere Studie "We are still alive" von 2015...

… eine Untersuchung über Langzeitfolgen von Kriegsvergewaltigungen und zu Bewältigungsstrategien von Überlebenden in Bosnien und Herzegowina.

Dafür haben 50 Überlebende ihre Geschichten erzählt. Storytelling-Ansatz nennt sich das. Die Studie stellten wir im Frühjahr 2015 im bosnischen Parlament vor. Im Publikum waren einige der Frauen, die mit ihren Geschichten die Studie erst möglich gemacht hatten. Ich saß mit den Autor:innen auf dem Podium. Nach unseren Fachvorträgen las eine Sprecherin Aussagen und Empfehlungen von Überlebenden aus der Studie vor. Während sie das tat, sah ich, wie sich vor uns im Publikum der Körper einer Frau aufrichtete. Es war ihr Beitrag, den die Sprecherin vortrug. Es war ihre Stimme, die im Parlament zu hören war. Das hatte einen empowernden Effekt für diese Frau. Noch heute bekomme ich Gänsehaut, wenn ich daran zurückdenke.

Die Studie hatte also nicht nur für medica mondiale einen Nutzen.

Überhaupt nicht. Wenn Evaluation klug gemacht ist, erfasst sie nicht nur die Wirkung von Projekten. Evaluation selbst kann eine positive Wirkung haben. Evaluation macht sichtbar, dass die Arbeit einen Unterschied macht. Das kann sehr empowernd sein. Wie das Beispiel aus Liberia zeigt: Dass wir die Frauen überhaupt gefragt hatten, sich zu beteiligen, dass wir später zurückkamen und ihnen die Ergebnisse vorstellten, dass wir ihnen erklärten, wieso ihre Fotos wichtige Daten waren, das hat ihnen auch gezeigt, dass ihre Meinung wichtig ist. Und genauso können Evaluationen transformativ wirken, also die Situation für die Überlebenden verändern – wie zum Beispiel unsere Bosnien-Studie. Durch Gespräche mit Überlebenden fanden wir heraus, dass kaum eine der Frauen wusste, dass sie Invalid:innenstatus beantragen und so eine Entschädigungsrente inklusive Krankenversicherung erhalten konnte. Um das zu ändern, überzeugte Medica Zenica staatliche Stellen davon, eine kostenlose Telefonhotline einzurichten.

medica mondiale ist eine feministische Organisation. Wie evaluiert man „feministisch“?

Auch bei “feministischer Evaluation” arbeitet man mit allen anerkannten sozialwissenschaftlichen Instrumenten und unter Einhaltung geltender Standards. Aber die Haltung ist eine andere. Wichtige Elemente sind das Bewusstsein über Machtdynamiken in der Projektarbeit und im gesamten Evaluationsprozess. Und eine entsprechende Selbstreflektion. Es geht darum, das Wissen der Überlebenden, der Beteiligten, der Expert:innen gleichermaßen wertzuschätzen und einzubeziehen.

Wir arbeiten in der Regel mit externen Evaluationsteams zusammen, die ihre regionale und nationale Expertise einbringen und stress- und traumasensibel vorgehen. Es ist spannend, die Perspektiven der Kolleg:innen in Westafrika oder in Südosteuropa auf Evaluation zu sehen. Und es hilft uns – als geldgebende Organisation aus Europa – uns selbst gegenüber machtkritisch zu sein. Die Zusammenarbeit mit den Evaluator:innen, die Expertise unserer Partnerorganisationen: Das bereichert unsere Arbeit ungemein. Für mich ist das ein Geschenk.

Auf einen Blick: Wirkungsmessung bei medica mondiale

Kirsten Wienberg und ihr Team

  • evaluieren Projekte,
  • evaluieren Ansätze, z. B. den stress- und traumasensiblen Ansatz von medica mondiale,
  • evaluieren Evaluierungen, um sicherzugehen, dass diese richtig umgesetzt werden,
  • erheben in Forschungsprojekten eigene Daten. Derzeit läuft eine Studie zu Langzeitfolgen sexualisierter Gewalt im Kosovo.