
F. Faham*
Juristin und frühere Sozialarbeiterin bei Medica Afghanistan
Aus Sicherheitsgründen kann F. Fahams Foto nicht gezeigt werden.
Content Warning: Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt. Geben Sie auf sich acht!
Meine Mutter hat darum gekämpft, dass ich zur Schule gehen konnte. „Nur bis sie zehn ist“, sagte sie meinem Onkel. Und als ich zehn war, kaufte sie mir eine Burka. Damit ich weiter zur Schule gehen konnte. Unerkannt.
Meine Mutter hat mir den Weg geebnet – und ich habe mich durchgekämpft. Zu Beginn jeder großen Ferien sagte mein Vater: „Das war’s jetzt endgültig.“ Jedes Mal schaffte ich es, ihm die Erlaubnis für ein weiteres Schuljahr abzuringen. Als die Mathe-Abschlussprüfung anstand, drohte mein Bruder: „Wenn du hingehst, breche ich dir die Beine.“ Ich ging hin. Auch zur Uni. Die Abschlussprüfung meines Jura-Studiums machte ich heimlich.
Später habe ich dafür gesorgt, dass meine jüngste Schwester eine Hebammenausbildung machen konnte. Und ich habe andere Frauen dabei unterstützt, sich ein Stück Freiheit zu erkämpfen. Frauen, die zuhause verprügelt wurden. Frauen, die im Gefängnis saßen. Frauen, deren Leben bedroht war, weil sie ihre gewalttätigen Ehemänner angezeigt hatten.
Für viele Afghaninnen begannen die Schwierigkeiten nicht mit den Taliban auf der Straße. Sie fingen, viel früher, zuhause an. Deshalb gingen wir in ihre Häuser, klopften an ihre Türen, saßen in ihren Wohnzimmern.
Paaren boten wir Familienmediation an. Unsere Unterstützung endete aber nicht mit den Gesprächen. Regelmäßig fragten wir nach: „Wie geht es dir? Hält er sich an die Vereinbarungen?“. Und wenn die Frauen sich scheiden lassen wollten, haben wir sie juristisch unterstützt. Wenn ich heute zurückdenke, bin ich überrascht, wie ich das ausgehalten habe: Einem Mann gegenüber zu sitzen, der jeden Moment bereit war, die Frau neben sich zu zerstören, weil sie es gewagt hatte, sich zu beschweren. Nie werde ich die junge Frau vergessen, die ihren Ehemann angezeigt hatte. Als ich sie traf, hatte sie Brüche an Armen und Beinen, selbst ihr Schädel war gebrochen. Ihr Mann wurde verurteilt und während er im Gefängnis saß, ließ sie sich scheiden. Doch nach Ende seiner Haftstrafe, drang er in ihr Haus ein und ermordete die junge Frau und ihre Mutter.
Ein Teil unserer Arbeit in den Gefängnissen bestand darin, Frauen nach Ende ihrer Haftstrafe auf den Weg zurück in den Alltag zu begleiten. Der war oft schwer, denn durch die Inhaftierung hatten sie „Schande“ über die Familie gebracht. In den Augen der patriarchalen Gesellschaft waren sie deshalb noch lange nicht frei. Wenn wir sahen, dass die Gefahr zu groß wurde, organisierten wir für die Betroffene einen Platz im Frauenhaus.
Bei meiner Arbeit blickte ich in die Hölle hinab. Und aus dieser Hölle war die Solidarität, die wir den Frauen entgegenbrachten, oft der einzige Ausweg.
F. Fahams Flucht nach Deutschland

Viele Männer empfanden uns als Bedrohung. Und sie wurden zur Bedrohung für uns, als die Taliban die Macht an sich rissen.
Als sie im August 2021 immer mehr Städte eroberten, flüchtete ich deshalb mit einigen meiner Kolleg:innen aus Herat in die scheinbare Sicherheit Kabuls.
Ich hatte nur eine kleine Tasche gepackt. Ein wenig Kleidung zum Wechseln, kein zweites Paar Schuhe. Eine Woche, dachte ich, dann hat sich die Lage beruhigt und ich bin zurück in Herat. Bis heute habe ich meine Heimatstadt nicht wiedergesehen.
Am 16. August kam mein Mann nach Kabul nach. Mitte Oktober gelang es uns, Visa für Pakistan zu erhalten. 400 Euro zahlten wir für das Stück Papier, das früher 80 Cent gekostet hatte. Mit Minibussen fuhren wir von Kabul aus in Richtung Osten. Neun Stunden warteten wir an der Torkham-Grenze, inmitten der Staubwolken, die das Chaos aus Autos, Bussen und verzweifelten Menschen aufwirbelte. Meine schönen Schuhe aus Herat waren komplett ungeeignet für die stundenlange Warterei.
Am Ende verließ ich meine Heimat über und über mit Staub bedeckt zu Fuß, in pinkfarbenen Plastikbadeschuhen.
In Deutschland habe ich lange gebraucht, um zu verstehen, dass wir in Sicherheit waren. Einmal gab es nachts auf dem Wertstoffhof nebenan einen lauten Knall. Panisch weckte ich meinen Mann: „Eine Bombe ist hochgegangen!“. „Nein“, sagte er beruhigend, „hier gibt es keine Bomben.“
Deutschland war meine Rettung. Aber ich habe einen hohen Preis dafür bezahlt: den Verlust meiner Identität. In Afghanistan hatte ich durch meinen Einsatz die Gesellschaft verändert. Wer war ich jetzt? Ohne Beruf, ohne Familie, ohne Sprache?
Aber es gibt Möglichkeiten. Und ich bemühe mich, sie zu nutzen.
Im Oktober 2023 ist unser Sohn geboren. Zwei Tage vor der Geburt hatte ich meine Abschlussarbeit an der Frankfurt University of Applied Sciences eingereicht. Sechs Tage nach der Entbindung nahm ich wieder online am Sprachkurs teil. Ich will so schnell es geht in der Lage sein, auch in Deutschland Frauen zu unterstützen. Weil es ohne Frauensolidarität nicht geht.
Immer waren es Frauen, die mir den Rücken gestärkt haben: meine Mutter, die mir den Weg zur Schule freikämpfte. Meine Kolleginnen. Die Frauen von medica mondiale. Wir brauchen mehr Solidarität, damit eines Tages die Frauen dieser Welt in Freiheit leben können.
*Aus Sicherheitsgründen wurde der Name verändert.