Portrait Dewa Wardak

Dewa Wardak

Psychologin und frühere psychosoziale Beraterin bei Medica Afghanistan

Content Warning: Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt. Geben Sie auf sich acht!

Viele Menschen sehen mein Kopftuch und glauben zu wissen, wie ich bin. Ungebildet. Unfrei. Sie sehen nicht Dewa, die Psychologin, die in Afghanistan studiert und in Deutschland ein Aufbaustudium abgeschlossen hat. Die nach Indien gereist ist, gearbeitet hat. Die frei ist.  

Ich bin Paschtunin. Wir gelten als die konservativste Ethnie Afghanistans. Einige meiner Freundinnen durften nicht zur Schule gehen. Ich konnte studieren. Am Tag meiner Abschlussprüfung in Psychologie bewarb ich mich bei Medica Afghanistan – und bekam die Stelle.

„Jetzt will das Mädchen auch noch arbeiten“, hieß es in der Familie. Und dann für eine internationale Organisation! In ihren Augen war das eine Sünde.

Aber mein Vater sagte: „Schau einfach, ob es dir gefällt.“ Das Gleiche sagte er, als ich nur zwei Wochen später zu einer Trauma-Fortbildung nach Indien reisen sollte. Und als ich begann, Frauen im berüchtigten Kabuler Gefängnis Pul-e-Charkhi zu betreuen. 

90 Prozent von ihnen waren in meinen Augen unschuldig. Oft hatte sie die pure Not ins Gefängnis gebracht. Ich bin überzeugt: Auch du und ich hätten in solchen Notsituationen ähnlich gehandelt.  

Noch immer erschüttert mich beispielsweise das Urteil gegen eine 23-Jährige, deren Eltern früh gestorben waren. Ihre Brüder zwangen sie zur Prostitution. Sie betäubten ihre Schwester und überließen sie anderen Männern. Als sie nach einer Vergewaltigung nach Hause kam, sah sie ihre Brüder betrunken am Tisch sitzen und das Geld zählen, das sie dafür bekommen hatten. Sie lief in die Küche, holte ein Messer und stach auf sie ein. Würdest du diese Frau als Verbrecherin bezeichnen?

Gemeinsam mit meinen Kolleginnen unterstützte ich die junge Frau und andere Insassinnen durch psychosoziale Beratung. Eine ihrer größten Sorgen war die Zeit nach dem Gefängnisaufenthalt. Viele waren nach der Freilassung auf sich allein gestellt, weil ihre Familien den Kontakt abgebrochen hatten oder weil sie gar keine Familie mehr hatten. Deshalb entwickelten wir Angebote wie Näh- und Alphabetisierungskurse, die wir gemeinsam mit anderen Organisationen umsetzten. Hier erlernten die Frauen Fähigkeiten, die ihnen nach der Haft ein selbstbestimmteres Leben ermöglichten.  

Dewas Flucht nach Deutschland

Route Map
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Kabul, Afghanistan
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Torkham, Afghanistan (18.10.21)
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Islamabad, Pakistan (18.10.21)
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Leipzig, Deutschland (28.10.21)

Als die Taliban im August 2021 in Kabul einfielen, musste ich die Arbeit aufgeben. Ich entwickelte Symptome, die ich bis dahin nur von Klientinnen kannte: Depression, Hoffnungslosigkeit.

Meine Fingerkuppen schmerzten wie unter Nadelstichen, zwei Finger wurden steif. Bis zum Abflug nach Deutschland am 28. Oktober 2021 hatte ich diese Schmerzen, verbunden mit der permanenten Angst, dass etwas schiefgehen würde.  

Nichts schien mehr sicher. Zuerst hieß es, ich müsse allein ausreisen. Dann: Meine Mutter und meine beiden jüngeren Geschwister können mit. Dann wieder: „Es geht nicht.“ Ins Flugzeug nach Leipzig stieg ich als Letzte, um wirklich sicherzugehen, dass auch meine Familie mitkommen würde in die Sicherheit und Freiheit Deutschlands. Denn sogar die Tatsache, dass wir zu diesem Zeitpunkt gemeinsam am Flughafen waren, habe ich einem Zufall zu verdanken: 

Mitte Oktober sollten wir mit einer Gruppe Kolleg:innen über die Grenze bei Torkham nach Islamabad reisen, um von dort aus nach Deutschland zu fliegen. Zu dem Zeitpunkt besaßen meine Mutter und meine beiden Geschwister Visa für Pakistan. Ich hatte keines erhalten. Mein Schwager wollte ebenfalls über die Grenze. Deshalb kauften wir uns für je 500 US-Dollar Visa. Nur 24 Stunden später hielten wir sie in den Händen. 

Dewa Brustbild

In Torkham war ich die Erste unserer Gruppe, die zur Passkontrolle ging. Auf der pakistanischen Seite warteten schon Verbündete von medica mondiale. Ich lief auf sie zu, der Grenzbeamte rief: „Moment, wir müssen noch die Papiere kontrollieren.“ Ich stoppte, reichte ihm meinen Pass inklusive Visum, unterhielt mich aber weiter mit den Kolleginnen. Er drückte den Stempel darauf – und ich war frei. 

Am nächsten Tag fuhr mein Schwager nach Torkham. Aber er wurde an der Grenze gestoppt: Das Visum war eine Fälschung. Was hatte ich für ein Glück, dass der Grenzbeamte abgelenkt war! Noch heute läuft es mir kalt den Rücken hinunter, wenn ich daran zurückdenke. Was wäre geschehen, hätten sie das falsche Visum entdeckt?   

Als mein Vater 2018 im Sterben lag, sagte er: „Teil die Verantwortung für die Familie mit deinem großen Bruder, lass ihn nicht allein damit. “ Ich bin so froh, dass ich dieses Versprechen halten konnte. Mein älterer Bruder lebt noch in Afghanistan. Alle anderen sind in Sicherheit.  

Portrait Dewa Wardak
Dewa Wardak
Dewa Wardak (36) ist Psychologin. Bis 2021 arbeitete sie bei Medica Afghanistan in Kabul. 2023 absolvierte sie an der Frankfurt University of Applied Sciences ein Aufbaustudium Soziale Arbeit. Dewa Wardak möchte wieder als Sozialarbeiterin tätig sein.