
Bahara Ajmal
Juristin und frühere Sozialarbeiterin bei Medica Afghanistan
Mein Vater hat seinen Töchtern alle Freiheiten gelassen – und wir haben sie bestmöglich genutzt. Ich setze jetzt alles daran, dass mir das wieder gelingt: die Möglichkeiten, die Deutschland mir bietet, bestmöglich zu nutzen.
In Afghanistan habe ich als Juristin gearbeitet. Ich habe Frauen vor Gericht vertreten. Ich ging in Gefängnisse, um inhaftierten Frauen juristisch beizustehen. Ich habe die Familien verurteilter Frauen begleitet. Jeden Tag sah ich, wie ausschlaggebend die Rolle von Richter:innen ist. Sie sind es, die am Ende entscheiden. Um mehr Gerechtigkeit für Frauen erkämpfen zu können, beschloss ich, Richterin zu werden. Von da an lernte ich jeden Tag, überall. Auf dem Weg zur Arbeit. In den Pausen. Abends zu Hause. Im Jahr 2020 wurden von 10.000 Bewerber:innen 300 für den Vorbereitungsdienst zugelassen. Ich war eine von ihnen.
Jeden Tag wurden Richter:innen und Staatsanwält:innen bei Anschlägen der Taliban getötet. Aber wir hatten so große Hoffnungen für unser Land, dass wir gar nicht daran dachten, aufzuhören.
Am Tag, als die Taliban in Kabul einrückten, war ich am Gericht, bis der Richter die Sitzung abbrach und alle nach Hause schickte. Die Straßen waren voller Autos, der Himmel voller Flugzeuge. So viele Menschen versuchten, die Stadt zu verlassen. „Jetzt hast du alles verloren“, dachte ich. „Jetzt gibt es kein Gericht mehr, jetzt musst du deine Familie retten.“
Mein Vater ist tot. Schon seit Jahren lebten meine Mutter, meine beiden Schwestern und ich allein. Wie würde es werden unter den Taliban, als Familie voller Frauen? Es gab so viele Geschichten von unverheirateten Mädchen, die die Taliban verschleppten und zur Heirat zwangen. Außerdem war ich in den Polizeistationen und bei Gericht registriert, mit Name, Adresse, Telefonnummer. Und: Die Taliban hatten die Gefängnisse geöffnet. Schon früher hatten wir Drohungen erhalten von Männern, die wegen uns bestraft worden waren. Aber damals hatten wir keine Angst. Damals schützte uns die Polizei. Jetzt waren wir schutzlos.
Nach zwei Tagen kam die Nachricht, dass ich nach Deutschland ausreisen könne. Ich wollte nie nach Europa. Ich wollte mein Land aufbauen, meine Mutter unterstützen. Aber sie sagte: „Du musst gehen.“
Baharas Flucht nach Deutschland

Also ging ich; verließ mein geliebtes Kabul, in dem früher die Straßen am Morgen voller Mädchen waren, die in schwarzen Kleidern und flatternden, weißen Schals zur Schule eilten; in dem Eltern mit ihren Kindern am Abend durch die Straßen flanierten. Ich verließ mein Kabul, das jetzt gespenstisch still und dunkel war, nachts notdürftig erleuchtet durch Stromgeneratoren.
Die ersten beiden Jahre in Deutschland waren hart. Ich habe alles verloren: meine Familie, meine Arbeit, meine Träume. Andere konnten mit ihrer ganzen Familie ausreisen, mit ihren Müttern, manche sogar mit ihren Schwägern oder erwachsenen Brüdern. Ich nicht. Dass ich meine Mutter zurücklassen musste, brach mir das Herz.

Anfang Dezember konnten immerhin meine Schwestern nachkommen. Den ganzen Tag saß ich vor der Tür des Wohnheims und wartete auf sie. Am Abend bog ein großer Bus in den Hof – endlich waren wir wieder zusammen. Ein Jahr lang lebten wir in einem Container. Im Sommer war es so heiß, dass wir nach dem Deutschkurs in ein nahegelegenes Einkaufszentrum gingen, um dort unsere Hausaufgaben zu machen. In unserem Container war die Hitze nicht auszuhalten.
Einmal hatte ich einen Termin. Ich fand die Adresse nicht und fragte Passant:innen auf der Straße, ob sie wüssten, wo sie liege. Keiner half mir. Seitdem frage ich niemanden mehr. Ich mache alles allein. Ich habe eine Wohnung für uns gefunden und mir mit YouTube das Kochen beigebracht. Das hatte bei uns zu Hause immer meine Mutter gemacht. Ich finde meine Wege mithilfe von GoogleMaps und spreche Deutsch auf „weit fortgeschrittenem Sprachniveau“, offiziell bestätigt durch das C1-Sprach-Zertifikat, das ich 2024 erhielt.
Viele meiner ehemaligen Kommilitoninnen, die noch in Kabul sind, haben inzwischen geheiratet, um sich vor einer Zwangsheirat durch die Taliban zu schützen. Manche von ihnen waren meine Vorbilder. So kluge Frauen! Und jetzt sitzen sie zu Hause. Sie haben nicht einmal Geld für gutes Essen. Und die internationale Gemeinschaft, die anderen Länder, unsere ehemaligen Verbündeten? Sie lassen die Taliban einfach gewähren.
Das Leben ist voller Ungerechtigkeit. Ich versuche jeden Tag, nicht aufzugeben und stattdessen an den Schwierigkeiten zu wachsen. Ehrenamtlich habe ich bei ZAN e. V. mitgearbeitet, einer Organisation, die in Frankfurt afghanische Frauen unterstützt. Eine meiner Schwestern engagiert sich in einem Seniorenheim. Unserer Mutter können wir gerade nicht helfen. Aber anderen.