Portrait Arezu Rezayee

Arezu Rezayee

Juristin und frühere Referentin in der Rechtsabteilung von Medica Afghanistan

Seit ich denken kann, setze ich mich für Frauenrechte ein. Ich wurde Hebamme in Bamiyan, weil Afghanistan schon damals eine der höchsten Müttersterblichkeitsraten der Welt hatte. Während ich die Schwangeren betreute, sah ich die Gewalt, unter der viele litten. 2013 beschloss ich deshalb, Jura zu studieren, um noch besser für ihre Rechte kämpfen zu können.  

Heute, gut zehn Jahre später, sind die Universitäten für Frauen versperrt. Weil die Taliban wissen: Sie werden sich nicht an der Macht halten können, wenn die Afghaninnen gebildet sind.  

Ab 2019 arbeitete ich bei Medica Afghanistan in Kabul. Am Vormittag des 15. August 2021 war ich im Büro. Zu Fuß hastete ich nach Hause, weil es keine freien Taxis gab. Die Taliban waren dabei, die Stadt einzunehmen, und auf den Straßen Kabuls verhöhnten Männer die Frauen, die wie ich weinend nach Hause eilten. Es waren schick gekleidete Frauen, selbstbewusste Frauen, Frauen in bunten Kleidern.

„Bald könnt ihr nicht mehr so herumlaufen“, riefen sie. „Bald ist eure Zeit vorbei.“  

In der Nacht konnte ich nicht schlafen.  

Am nächsten Tag kam ein Anruf von medica mondiale. Wir sollten in die Nähe des Flughafens kommen, das medica-Team war dabei, unserer Evakuierung zu organisieren. Jeden Moment konnte es losgehen.  

Zwei junge Kolleginnen lebten in der Nachbarschaft. Ihre Eltern brachten sie zu mir. „Pass auf sie auf, als wären sie deine Töchter“, sagten sie. Gemeinsam mit meinem Mann und unseren drei Kindern fuhren wir los. Unser Ziel war die Wohnung einer Kollegin in der Nähe des Flughafens. Immer wieder gab es Schusswechsel. Irgendwann weigerte sich der Taxifahrer weiterzufahren und wir mussten aussteigen. Ich versuchte, meine Kinder mit dem Körper zu schützen. Mein Mann suchte ein neues Taxi. Wir schafften es unverletzt in die Wohnung. 

Arezus Flucht nach Deutschland

Route Map
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Kabul, Afghanistan
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Kabul Airport, Afghanistan (26.08.21)
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Torkham, Afghanistan (12.11.21)
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Islamabad, Pakistan (12.11.21)
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Hannover, Deutschland (25.11.21)

Sieben Tage sind wird dort geblieben. Sieben Tage, an denen ich das Handy nicht aus der Hand legte. Sieben Tage, an denen ich nicht essen konnte, kaum schlafen. Ich habe trotzdem versucht, stark zu sein, für meine Kinder, für meine jüngeren Kolleginnen.

Am achten Tag sind wir in ein Hotel umgezogen, in dem auch andere aus unserem Team waren. Die Gemeinschaft half mir sehr. Zusammen weint es sich tatsächlich leichter. 

Am 26. August machten wir uns um fünf Uhr morgens mit Bussen auf den Weg zum Flughafen. Um uns herum verzweifelte Menschen. Sie belagerten auch unsere Busse, weil sie wussten, dass wir als Mitarbeiterinnen einer internationalen Organisation gute Chancen hatten, aufs Flughafengelände zu kommen. Maschinengewehrsalven dröhnten. Als sich am späten Nachmittag ein Selbstmordattentäter in die Luft sprengte, gaben wir auf. „Wer sind die Leute, die da schießen?“, fragten meine Kinder auf dem Rückweg ins Hotel. „Das ist die Polizei, sie beschützt uns“, antwortete ich, um ihnen nicht noch mehr Angst zu machen. „Ich hasse alle Polizisten, Mama“, sagte meine kleine Tochter. 

Wir machten uns Sorgen um die Sicherheit im Hotel und mieteten eine Wohnung, deren Adresse wir geheim hielten. Meine Eltern zogen mit ein. Es war unsere Chance, die Zeit, die blieb, gemeinsam zu verbringen. 

Im Oktober erhielten wir schließlich Visa für Pakistan. Wieder ging es vor Sonnenaufgang los. Dieses Mal sechs Stunden Richtung Osten, zum Grenzübergang Torkham. Wieder warteten Tausende von Menschen. Wieder wurde geschossen. Mein Mann trug unsere kleine Tochter auf den Schultern, Stunde um Stunde. Das Gedränge wurde immer enger, die Menschen drückten in ihrer Panik in Richtung Grenzübergang. Gegen Mitternacht sagte mein Mann: „Es wird zu gefährlich für die Kinder.“ Wieder gaben wir auf.  

Arezu Brustbild

Im November konnten wir endlich über Islamabad nach Hannover fliegen. Nie werde ich den Moment vergessen, als das Flugzeug abhob. Von oben blickte ich auf Kabul und war voller Schmerz. Ich ließ mein Land, meine Familie, meine Hoffnungen für die Frauen Afghanistans zurück. Ich flog mit meinem Mann und unseren Kindern an einen sicheren Ort. Aber was war mit all den anderen, die diese Möglichkeit nicht hatten? 

Die medica mondiale-Kolleginnen waren wie ein Licht inmitten des Dunkels. Sie haben gezeigt, was Frauensolidarität bedeutet – und mir die Hoffnung zurückgegeben, dass ich weiter für die Rechte von Frauen kämpfen kann, auch von Deutschland aus. 

2022 engagierte ich mich ehrenamtlich im „welcome“-Projekt von medica mondiale, das uns und die anderen evakuierten Familien beim Ankommen in Deutschland unterstützte. 2023 stieß ich verschiedene Empowerment-Angebote für afghanische Frauen an – ein Fahrradprojekt beispielsweise und einen Workshop zu familiärer Gewalt – und gründete gemeinsam mit Kolleginnen Hami e. V. Seit Januar 2024 arbeite ich bei Über dem Tellerrand Frankfurt e. V. Ich bin Frauenrechtlerin. Und werde es mein Leben lang bleiben. 

Portrait Arezu Rezayee
Arezu Rezayee
Arezu Rezayee (36) ist ausgebildete Hebamme und examinierte Juristin. Von 2019 bis 2021 war sie bei Medica Afghanistan in Kabul Referentin in der Rechtsabteilung. Nach ihrer Ankunft in Deutschland engagierte sie sich ehrenamtlich im „welcome“-Projekt von medica mondiale, das evakuierte Familien die Ankunft in Deutschland erleichterte. Arezu Rezayee ist Gründungsmitglied der Frauenrechtsorganisation Hami – Women Empowerment Organization e. V. und arbeitet bei der Organisation Über den Tellerrand Frankfurt e. V., die sich für Integration und soziale Teilhabe von Menschen mit Fluchterfahrung einsetzt.